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Lesestoff für den Restsommer.

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Der Sommer dauert an, Urlaub hoffentlich auch noch – und wenn nicht, so gibt es vielleicht die eine oder andere ruhige Stunde am Baggersee, im Grünen oder wo sich sonst diese politischen, feministischen oder einfach nur guten Bücher in Ruhe lesen lassen. Unsere dieStandard-Tipps:

Magisch-bizarre Welten

"Wenn Sie absolut nicht allein sein wollen, kann ich Ihnen einen Fahrradsattel als Partner wärmstens empfehlen. (..) Wenn Sie ihn von Ihrem Fahrrad abnehmen, können Sie beide ungehindert miteinander ausgehen." Die Empfehlung der Kolumnistin, die noch vom Krankenbett aus ihre treue Leserinnenschaft mit Beziehungstipps versorgt, ist in Yukiko Motoyas Erzählband keineswegs eine ungewöhnliche. Tiere, "anorganische Materie" oder aber Ehemänner, die schlicht aus gebündeltem Stroh bestehen – sie alle spielen eine selbstverständliche Rolle in den elf erstmals auf Deutsch erschienenen Storys.

Yukiko Motoya, "Die einsame Bodybuilderin", aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 20,60 Euro / 240 Seiten. Aufbau-Verlag 2021
Foto: Aufbau Verlag

Die mehrfach preisgekrönte Autorin erzählt vom tristen Ehealltag und von wundersamen Wandlungen; wiederholt erkämpfen die Protagonistinnen sich inmitten patriarchaler Enge ein Stück Raum, der nur den eigenen Regeln folgt. So wie die einsame Bodybuilderin in der titelgebenden Geschichte, die schwere Gewichte stemmt, während ihr Ehemann vom wachsenden Bizeps seiner Gattin keinerlei Notiz nimmt. Stark, bizarr und unglaublich komisch.

Drei vom ungleichen Schlag

Es ist Sommer und ungefähr so heiß wie derzeit gerade. Die junge Agnes nimmt Reißaus aus ihrem noch gar nicht so richtig begonnenen Erwachsenenleben und dem schlechten Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie flüchtet von Wien aus ins nahegelegene Landleben. Dort trifft sie auf die 69-jährige Felicitas, die ihrerseits mit ungelösten Problemen aus der Vergangenheit kämpft – und somit ganz auf der anderen Seite des Spektrums steht. Und dann ist da noch Eduard, IT-Berater, Vollzeit-Nerd und großer Fan von digitaler Privatsphäre, was einiges an Aufwand bedeutet, wie wir lernen. Oft weiß er nicht, was eine reale und was eine einbildete Bedrohung ist, und irgendwie ist das auch egal. Angst ist Angst.

Mieze Medusa, "Du bist dran", 22,– Euro / 256 Seiten, Residenz-Verlag, 2021
Foto: Residenz Verlag

Drei völlig unterschiedliche Leben, doch es geht sich tatsächlich aus: Autorin, Rapperin und Poetry-Slammerin Mieze Medusa verzahnt diese drei Leben zu einer höchst empathischen Erzählung über drei Menschen, deren Erleben und Empfinden man vor allem durch den Widerhall der jeweils anderen erst so richtig verstehen kann. Darüber hinaus taucht die Autorin das Geschehen in derart prägnante Bilder eines sommerlichen Wiens und eines Dorflebens in unweiter Nähe zur Großstadt, dass es eine Freude ist.

Mehr als Pro Choice

Aktivist*innen rund um den Globus kämpfen für einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch. Doch sich allein auf Abtreibungsrechte zu beschränken blende wichtige Aspekte der reproduktiven Gerechtigkeit aus, kritisieren Vertreter*innen des Konzepts. Entwickelt wurde der Begriff der Reproductive Justice von US-amerikanischen Schwarzen Feminist*innen. Loretta J. Ross, einst Teil dieser Gruppe, skizziert im Band "Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit", warum es stets eine Analyse verschiedener Unterdrückungsformen braucht.

Kitchen Politics (Hg.), "Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit", 10,95 Euro / 144 Seiten. edition assemblage 2021
Foto: Edition Assemblage

So pocht reproduktive Gerechtigkeit darauf, Kinder unter selbstgewählten Bedingungen bekommen und sie auch frei von Gewalt großziehen zu können, und wendet sich gegen den Mythos der unwürdigen Mutter: "sei es als arme, migrantische, queere, mit Behinderung lebende Frau oder als Frau of Color". Weitere Autor*innen des Bands analysieren, wie das Konzept auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann oder warum eine rassistische und klassistische Bevölkerungspolitik just angesichts von Pandemie und Klimawandel Konjunktur hat.

Digitale Gewalt

Häufig sei Hate Speech (auch "Hass im Netz") gemeint, wenn von digitaler Gewalt die Rede sei, schreiben Jenny-Kerstin Bauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad. Digitale Gewalt im sozialen Nahraum hingegen bleibe vielfach unterbeleuchtet – etwa, wenn (Ex-)Partner Nacktfotos im Netz verbreiten, heimlich Spy-Apps installieren oder die Betroffene unaufhörlich mit Nachrichten bombardieren.

Bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Nivedita Prasad (Hg.): "Geschlechtspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung", 35,– Euro / 334 Seiten. Transcript 2021
Foto: transcript Verlag

Die Autor*innen des Sammelbands "Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung" geben einen detaillierten Überblick, welche Formen digitale geschlechtsspezifische Gewalt annehmen kann und warum eine Trennung von digitaler und analoger Gewalt oft keinen Sinn macht. So erklärt Chris Köver, wie Stalkerware im Kontext von Partnerschaftsgewalt eingesetzt wird, Jenny-Kerstin Bauer und Helga Hansen liefern eine Checkliste für digitale Erste Hilfe im Beratungskontext. Ein umfangreicher Band mit einer Fülle von Praxistipps und Rechtsinfos, der in keiner Frauen- und Mädcheneinrichtung fehlen sollte.

Pathos überall

Für die Essayreihe "Übermorgen" widmen sich Autor*innen Begriffen, die gerade heute eine genauere Betrachtung verdienen. So abstrakt und wenig greifbar diese Begriffe erstmal klingen, so konkret strukturieren sie unser tagtägliches Handeln, Urteilen und Denken. "Pathos" etwa, dem sich die Journalistin Solmaz Khorsand gewidmet hat: In unserer arg um Aufmerksamkeit konkurrierenden Welt, inmitten von unzähligen und niederschwellig zugänglichen Informationen und Nachrichten ist Pathos das Mittel der Wahl, um sich Gehör zu verschaffen.

Solmaz Khorsand, "Pathos", 18,– Euro / 124 Seiten, Kremyr & Scheriau, 2021
Foto: Kremayr & Scheriau

Ein Mittel, das allerdings längst nicht allen in gleichen Maßen zur Verfügung steht, wie Khorsand zeigt. Es gibt riesige Unterschiede dabei, ob ein vorgebrachtes Leid, ein mit Verve angeprangertes Problem als ebensolches wahrgenommen wird oder als Versagen eines Einzelnen, Übertreibung oder gar Einbildung ankommt. Wem Pathos zusteht und wem nicht, welche Effekte es bei den einen hat und bei wem es zum Verhängnis werden kann – diese Hierarchie ist bis heute in seiner vorurteilsbeladenen Struktur oft noch unsichtbar. "Heulhierarchie" nennt das Solmaz Khorsand etwa, was schon mal ihren schneidigen Stil verrät.

Wer ist "wir"?

Viele, die restriktive Gesetze und Reglungen rund um Fragen von Migration und Asyl verteidigen, bemühen gern die Vernunft. Die brauche es nun mal ob dieses schweren Themas. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger zeigt allerdings, wie zukunftsvergessen oft jene herrschenden Konzepte und Glaubenssätze zu Migration sind, die sich so gern als "rational" ausweisen. In "Wir" geht sie es grundsätzlicher an. Was kann ein "Wir" überhaupt bedeuten angesichts fluider Gruppen und flexibler werdender Identitätsentwürfe? Und was ist mit einem "Wir", das konsequent bestimmte Gruppen ausgrenzt, was gar nicht mal weiter auffällt? Dass etwa die Gruppe "wir, die wir hier leben" noch nicht mal in puncto Mitbestimmung funktioniert, zeigt sich hier: In Wien sind ein Drittel der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Judith Kohlenberger, "Wir", 18,– / 107 Seiten, Kremyr & Scheriau, 2021
Foto: Kremayr & Scheriau

Kann doch dem egal sein, der oder die das Wahlrecht hat? Stimmt nicht. Denn die Folgen einer ausgrenzenden Gesellschaft trügen letztlich alle, schreibt Kohlenberger. Sei es durch ein erodierendes Vertrauen in Gesetze oder eine schlechtere psychische und körperliche Gesundheit, die eine Gesellschaft als Ganzes belastet. Eine gleichberechtigte Welt, schreibt Kohlenberger, sei letztlich eine sicherere, gesündere und lebenswertere Welt. Klingt vernünftig und nach einem guten Grund, über ein neues "Wir" nachzudenken, dass sich nicht vor allem über Abgrenzung definiert, sondern das sich durch ein Zusammenwachsen auszeichnet. (Beate Hausbichler, Brigitte Theißl, 17.8.2021)