Ein Foto einer Demonstration im November 2015 in Wien. Sechs Jahre später fordern Exil-Afghaninnen und -Afghanen Hilfe für ihre Verwandten in Afghanistan – und einen Abschiebestopp.

Foto: der plankenauer

Ghousudden Mir war bis vor wenigen Tagen selbst noch in Kabul, erst am 22. Juli ist der Obmann des afghanischen Kulturvereins Akis nach Wien zurückgekommen. "Es geht mir sehr schlecht, wenn ich die aktuellen Bilder aus Afghanistan sehe. Da ist eine dunkle Wolke über unser Land gezogen. Die Leute haben keine Hoffnung", fasst er seine derzeitigen Gefühle zusammen.

Sorgen und Ängste

So gehe es vielen in der afghanischen Community hier in Österreich – Mir zufolge mittlerweile 44.000 Personen. Seit wenigen Tagen melden sich besonders viele bei ihm. "Viele hier in Österreich haben noch Familie in Afghanistan und um die nun große Angst." Es gebe Berichte, wonach Mädchen Taliban-Soldaten übergeben werden sollen. "Alle wollen wissen, was man jetzt tun kann. Ich frage mich das selber", sagt Mir, der bereits 1993 nach Österreich flüchtete – mit Unterstützung eines ÖVP-Politikers. Mir rät jenen, die derzeit noch in Afghanistan sind, sich zu verstecken. "Ich sage das vor allem allen, die Töchter haben oder Frauen in der Familie, die berufstätig sind. Mehr kann ich derzeit leider nicht tun. Es gibt ja keine österreichische Botschaft in Kabul – ansonsten würde ich die Leute dorthin schicken."

Appell an den Bundeskanzler

Hier in Österreich geht Mir auf die Straße. Vor drei Tagen zog er mit anderen Exil-Afghaninnen und -Afghanen und anderen Unterstützern vor die UN-Gebäude in Wien, wo die Demonstranten Sanktionen für Pakistan forderten. "Die Taliban sind nicht von allein so stark geworden. Pakistan hat sie vorbereitet und unterstützt sie weiterhin."

Mir hat aber auch Forderungen an die österreichische Regierung. Ganz oben auf der Liste: Abschiebungen nach Afghanistan zu stoppen. "Von Kriminellen spreche ich hier nicht. Die sollen ihre Strafe bekommen und auch abgeschoben werden", stellt er klar. In den anderen Fällen müsse man aber an die Menschen denken. Außerdem will Mir Unterstützung für Familienangehörige von Austro-Afghaninnen und -Afghanen – bis hin zum Ausfliegen nach Österreich. Dass die ÖVP derzeit einen anderen Kurs fährt, sei ihm bewusst. Kritik daran will er nicht üben. "Es ist doch egal, ob ÖVP oder SPÖ. Jetzt muss es um die Menschen, vor allem um die Kinder, gehen. Und ich appelliere deswegen an den Bundeskanzler."

In Kabul versuchen die Einheimischen derzeit verzweifelt, aus dem Land zu kommen.
DER STANDARD

Innenminister Nehammer sucht "Alternativen"

Nachdem Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Sonntag noch an seiner Linie, Abschiebungen weiterhin durchzuführen, festhielt – zu dem Zeitpunkt war Kabul noch nicht von den Taliban eingenommen –, stellte Gesundheits- und Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) am Sonntagabend in der "ZiB 2" klar, dass sich die Abschiebungen "erledigt" hätten – "spätestens mit dem heutigen Tag", wie der Minister erklärte. "Da werden Leute ausgeflogen aus Kabul, da werden wir nicht einen Charter anheuern und Leute hinbringen. Das heißt, das geht einfach nicht, das ist auch von der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht gedeckt."

Der Innenminister reagierte darauf mit einer Forderung nach Abschiebezentren rund um Afghanistan. Erstmals gestand er am Montag damit ein, dass Abschiebungen derzeit nicht möglich sind – zumindest nach Afghanistan: "Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden", sagte er am Montag. Er werde beim Sonderrat der EU-Innenminister die Idee der Abschiebezentren vorschlagen, denn es brauche die Kraft und Unterstützung der Europäischen Union. Auch Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) ist an Bord: "Afghanistan darf nicht zu einem sicherheitspolitischen schwarzen Loch werden. Die europäischen Bemühungen müssen auch die Nachbarländer Afghanistans und die Transitländer miteinbeziehen."

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), will Menschen aus Afghanistan Schutz in Wien anbieten.

Kogler: "Es wird nicht abgeschoben"

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat Montagabend im ORF-"Sommergespräch" unterstrichen, dass es angesichts der Lage in Afghanistan "faktisch und aus rechtlichen Gründen" keine Abschiebungen mehr in dieses Land stattfinden werden: "Das weiß die ganze Bundesregierung, und das wird so sein."

Nehammers Haltung in Asylfragen habe schon in der Vergangenheit zu Kontroversen mit dem Koalitionspartner geführt, und dass es kein Bekenntnis gegen Abschiebungen gebe, "war ja auch irritierend", so Kogler: "Ja, ich sehe das sehr problematisch, aber wichtig ist, was jetzt am Ende als Ergebnis steht, und das Ergebnis ist: Es wird nicht abgeschoben." Der Grünen-Chef erinnerte in diesem Zusammenhang an die Europäische Menschenrechtskonvention, die ein Verbringen in Staaten, wo Folter oder Gefahr für Leib und Leben drohe, verbiete.

Es würden auch weiter Asylanträge afghanischer Bürger angenommen. Vor allem gefährdeten Frauen solle gezielt Hilfe angeboten werden, am besten europäisch abgestimmt. Und auch Hilfe vor Ort – etwa aus dem Auslandskatastrophenfonds – müsse es geben.

Wiener Bürgermeister ruft zum Handeln auf

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig zeigte sich auf Twitter schockiert über die Bilder aus Kabul und forderte die internationale Staatengemeinschaft sowie die Bundesregierung auf zu handeln: "In einem ersten Schritt heißt das für Österreich: Aufnahme jener Menschen aus Afghanistan, die mit Österreicherinnen und Österreichern im Rahmen der Tätigkeit der Vertretung der Europäischen Kommission in Kabul lange eng zusammengearbeitet haben."

Zudem fordert Ludwig, jenen zu helfen, die sich für die Rechte von Frauen und Mädchen eingesetzt haben. Sie sollen unter internationalen Schutz gestellt werden. Wien als Stadt der Menschenrechte erkläre sich "auf jeden Fall bereit", solche Menschen aufzunehmen.

Kritik aus Italien

Auf europäischer Ebene gibt es Kritik an der Position der österreichischen Regierung. Die Parlamentarierin der italienischen Regierungspartei Fünf Sterne Federica Dieni kritisiert die österreichische Regierung, weil sie sich weiter gegen einen Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen hat. "Die österreichische Position ist zu verurteilen", betonte Dieni im Interview mit Radio 24 am Montag.

"Italien tut sein Bestes, um so viele Menschen wie möglich, die in Afghanistan mit uns zusammengearbeitet haben, zurückzubringen. Europa muss seinen Teil beitragen, damit Menschen, die ihr Land verlassen wollen, sicher ankommen. Es ist für sie und für uns wichtig, das Eindringen von Terroristen zu verhindern und Bedrohungen dieser Art vorzubeugen", so die italienische Parlamentarierin.

Gemeinsamer Nenner: Konferenzen

Am Montag wurde die Kritik des grünen Koalitionspartners lauter. Viktoria Spielmann, Frauen- und Sozialsprecherin im Wiener Gemeinderat, war auch die Erste, die eine Luftbrücke forderte. Nehammer warf sie realitätsleugnende und menschenrechtsfeindliche "Verdrängungspolitik" vor.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, stellte am Montag klar: "Alle, die jetzt nicht über akute Hilfe für die Fliehenden, sondern über Abschiebung reden – schämt euch." Es gelte nun Evakuierungen sicherzustellen, außerdem müssten Fluchtwege in die Nachbarstaaten offen gehalten werden.

Im Gespräch mit dem STANDARD forderte Dziedzic bereits am Sonntag "eine Sicherheitskonferenz auf europäischer Ebene und internationale Zusammenarbeit". Österreich könne hier genauso wenig wie andere Mitgliedsstaaten im Alleingang handeln. "Was jetzt alle begreifen müssen: Diese Verhandlungen müssen nicht nur bald stattfinden, sondern auch bald abgeschlossen sein. Wir müssen Entscheidungen treffen, auch wenn es sich um den geringsten gemeinsamen Nenner handelt."

Wie berichtet planen Schallenberg und Nehammer eine Afghanistan-Konferenz mit den zentralasiatischen Nachbarländern Afghanistans und einigen EU-Ländern, um möglichst zielsicher Hilfe vor Ort anbieten zu können. Die Konferenz ist für Ende August oder Anfang September in virtueller Form geplant.

Dem EU-Abgeordneten der SPÖ Andreas Schieder geht das nicht weit genug. "Wir können nicht auf eine Konferenz oder den EU-Flüchtlingsdeal warten, wir können Menschen nicht weiterhin in ein Land abschieben, das von islamistischen Warlords regiert wird." Es brauche stattdessen eine "humanitäre Rettungsaktion". Vor allem für Frauen, Aktivistinnen und Aktivisten und Minderheiten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter westlicher Botschaften bzw. Militärs müsse die internationale Gemeinschaft nun eine "sichere Ausreise und humanitären Schutz" organisieren. Schieder geht mit seiner Forderung deutlich weiter als SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Sie hatte am Sonntag "sichere Zonen in der Region" gefordert.

Der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer hat seine Haltung zu einem Abschiebestopp für straffällig gewordene afghanische Asylwerber geändert: Bis vor Kurzem noch dafür, hielt er am Montag im Sommergespräch des ORF Tirol fest, dass sich die Lage in dem Land in den vergangenen 14 Tagen stark zugespitzt habe. Jetzt sei eine Abschiebung nicht mehr möglich.

Gerichte entschieden bereits gegen Schubhaft

Während Innenminister Nehammer bis Montagmittag zu den Abschiebungen schwieg, gab es bei den Gerichten bereits andere Einschätzungen. Der Anwalt Gregor Klammer vertritt eigenen Angaben zufolge "derzeit fast alle noch übrigen Afghanen, die in Österreich noch in Schubhaft sitzen". In den letzten Tagen habe er drei Entscheidungen von Gerichten bekommen – alle seien positiv ausgefallen: Schubhaftbescheide und die Anhaltung in Schubhaft werden in den Bescheiden, die dem STANDARD vorliegen, vom Bundesverwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt und der Beschwerde Klammers stattgegeben.

Und das, obwohl das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) auf Anfrage des Gerichts noch betonte, dass kein Abschiebestopp geplant sei. Außerdem liege eine Zusage der afghanischen Behörden für einen Charterflug vor, so das BFA in dem Statement. Das Gericht hält in dem Bescheid aber fest, dass ein mit Deutschland geplanter Abschiebeflug wegen fehlender Landeerlaubnis nicht durchgeführt werden konnte. Außerdem habe die afghanische Botschafterin in einem Interview davon gesprochen, dass in Afghanistan Krieg herrsche. Und das Gericht führt in der Folge auch an, welche Städte die Taliban bis dahin eingenommen hatten. Fazit: "Eine tatsächliche Abschiebung des Beschwerdeführers innerhalb der zulässigen Schubhafthöchstdauer erscheint derzeit nicht realistisch."

Klammer überraschten die Entscheidungen nicht, obwohl sie von Richtern gekommen seien, die bislang für harte Urteile bekannt gewesen seien. "Jeder weiß, dass Abschiebungen derzeit nicht möglich sind. Diese Forderung aufrechtzuerhalten ist innenpolitisches Kalkül und sonst nichts." (Vanessa Gaigg, Lara Hagen, 16.8.2021)