Auf der Jagd nach den Kreaturen der Einbildung in Gladbeck bei Essen: Michael Maertens (Mi.), umgeben von lauter gebrechlichen Erinnyen.

Foto: Matthias Horn

Die Turbinenräder in der riesigen Maschinenhalle Zweckel, unweit von Essen in Gladbeck gelegen, scheinen in hundertjährigen Schlaf versunken. In Reih und Glied gestellt hat sie Bühnenbildner Martin Zehetgruber: gusseiserne Objekte aus einer Zeit, als Stahlköche wie Alfred Krupp hierorts als Wohltäter galten und das gesamte Ruhrgebiet mit seinen Zechen und Stollen gehörig unter Kesseldampf setzten.

Edgar Allan Poe, anno 1840 ein literarischer Geisterseher, hat den Schöpfern von Fortschritt und Wohlfahrt ein anderes, schauerliches Lied gesungen: von Nervenschwäche und Degeneration. Und so beginnt die diesjährige Ruhrtriennale gleichsam als Kanon, als zweistimmiger Nekrolog auf das von uns Klimageschädigten so häufig verunglimpfte Industriezeitalter. Besprochen und vertont werden in der Produktion Der Untergang des Hauses Usher Schlüsselszenen: Textfetzen und Funktionsbelege aus nicht weniger als fünf Erzählungen Poes.

Die Schweizer Regisseurin Barbara Frey, selbst eine gelernte Musikerin, bringt in ihrem Eröffnungsjahr als Intendantin der Ruhrtriennale den Pott gleichsam zum Klingen. Als erstes, wie bei Poe gar nicht anders möglich, die Nerven. Die sind hier gespannt wie Klaviersaiten. Und so – die Gäste wie CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet haben noch gar nicht ihr Nervenkostüm fertig glattgestrichen – schlagen zwei Pianisten mit wallendem Haar schmerzende Stakkatotöne an. Sekunden ballen sich im Dämmer der Zyklopenhalle zu Akkorden. Es scheint, als ob John Cage und Michael Nyman über dieser Komposition glücklich zueinandergefunden hätten.

Hinab in die Tieflage

Vom höchsten Diskant kippt die Musik hinab in die tiefsten Lagen. Zwanzig Minuten sind vergangen, als eine Gruppe von sechs Schauspielern an den Turbinen vorbeizieht und wie eine Abordnung Nervenkranker, nach Licht blinzelnd, scheu ans Fenster tritt. Kein Hochofen brennt, nur die Augustsonne leuchtet zum Abschied.

Fortan wandert Poes Text von Mund zu Mund. Man erfährt vom unaufhaltsamen Niedergang des Roderick Usher. Von seiner hypochondrischen Schwermut, von der inzestuösen Nähe zur todkranken Schwester. Zugleich bildet dieses Häuflein Versprengter, allesamt Gespenster aus der Spukfabrik der Eisengießerei, eine tadellose Abordnung aus Wien. Der Usher-Abend ist eine Koproduktion mit der Wiener Burg. Und so entpuppt sich Freys dämmerndes Assoziieren auf der Grundlage von Poe als Abgesang.

Man darf Schauspielern wie Michael Maertens beim Abschmecken der Prosa zuhören. Er verzichtet auf sein erprobtes gaumiges Gejodel – und liefert eine hinreißende Studie aufflackernden Wahnsinns. So, wenn er sich zur Klärung schauerlicher Morde in die berühmte Rue Morgue begibt: Immerhin darf Poe als Erfinder der Detektivgeschichte gelten. Maertens trifft strahlenden Blicks die berühmte Unterscheidung zwischen Scharfsinn und analytischem Verstand; er erzählt, bedrängt von Erinnyen am Rollator, von der äffischen Sendung des Menschen.

Allerlei Folgeschäden

Frey notiert gewissenhaft die Folgeschäden, die das nicht bloß deutsche Industriezeitalter in den Gemütern hinterlassen hat. Sie erzielt hinreißende Wirkungen, wenn ihre Schauspielerinnen – die auch Englisch (Debbie Korley) und Ungarisch (Annamária Láng) sprechen – einen Chor bilden und kosmische Verlautbarungen wie Pink Floyds Astronomy Domine gewispert zum Besten geben: "Lime and limpid green, a second scene ..."

Mit dieser wohlgelungenen Einstandsproduktion hat Frey den Grundton angeschlagen: die Rekonstruktion einer Sensibilität, die die Kehrseite der materiellen Wertschöpfung bildet – das allmähliche Verlöschen hin zum Tode. Gestartet war das Festival in aller Frühe: mit Ravel in der Zweckel-Halle. Noch bis 25. September reiht sich ein exzentrischer Programmpunkt an den nächsten. Wobei sich aus heimischer Sicht das Interesse auf Olga Neuwirths Bählamms Fest (in Bochum, Regie: Dead Centre)) und auf Choreografin Florentina Holzingers A Divine Comedy (ab 19. 8. in Duisburg) konzentrieren wird. 37 Produktionen hat Frey zu 110 Veranstaltungen zusammengeballt, 16 Millionen Euro kann sie budgetieren.

Und so werden nicht weniger als 64 Schlagzeugerinnen und Perkussionisten ab 16. 9. die Kraftzentrale in Duisburg zum Vibrieren bringen: dort, wo auf 170 Meter Länge einst die Luft für die Hochöfen vorgeheizt wurde. Himmelhoch paukend, zu Tode betrübt: Frey stellt die Uhren im Pott neu. Die Industrie tritt uns als Gespenst entgegen. Ein Totentanz: Das ist nach den Intendanzen von Johan Simons und Stefanie Carp etwas ohrenbetäubend Neues. (Ronald Pohl, 16.8.2021)