Das Tessin ist die etwas andere Schweiz. Schon beim Aussteigen am Bahnhof in Bellinzona fallen die Palmen auf, die hier überall wachsen. Der Kanton Tessin galt lange Zeit als das Armenhaus der Schweiz, und noch heute sind die Durchschnittslöhne hier deutlich unter dem eidgenössischen Durchschnitt.

Bellinzonas beeindruckende Burganlagen, im Hintergrund der Lago Maggiore – all das lässt sich perfekt auf dem Bike erkunden, und die Anreise erfolgt bequem per Bahn.
Foto: Florian Lechner

Weitere Superlative, mit denen das Tessin aufwarten kann, beschreiben das einzigartige Klima: Es ist der Kanton mit den wenigsten Regentagen in der Schweiz, der aber die größte Jahresniederschlagsmenge aufweist. Kurzum: Wenn es regnet, dann richtig. Und sonst scheint meist die Sonne.

Perfekte klimatische Voraussetzungen für Mountainbiker. Und wir sind hier in der Schweiz, also ist Radfahren selbst auf Wanderwegen erlaubt, außer es ist ausdrücklich verboten. Wer gerne ausgedehnte Touren mit langen Trailabfahrten sucht, wird im Tessin ein echtes Paradies finden. Doch Vorsicht: Die Berge sind steil, die Trails daher anspruchsvoll und meist nichts für Anfänger. Starten kann man im Grunde direkt am Bahnhof in Bellinzona, der Hauptstadt des Kantons.

Stadt der Burgen

Die Stadt der Burgen ist ein echter Geheimtipp und ideal per Bahn erreichbar. Am bequemsten mit dem Nachtzug von Wien nach Zürich, bei dem Fahrradmitnahme möglich ist. Dank Gotthard-Tunnel dauert die Weiterreise nach Bellinzona nur gut anderthalb Stunden – sprich mittags genießt man schon einen guten Tessiner Merlot im Schatten von Palmen.

Jahrhundertelang markierte Bellinzona die Grenze zwischen dem deutsch- und dem italienischsprachigen Gebiet. Eine gewaltige Burganlage, die das Tal und die Stadt praktisch durchzieht, zeugt von dieser Zeit.

Früher wurde hier von Durchreisenden die Maut eingehoben. Seit dem Jahr 2000 sind die wunderschön renovierten Burgen Teil der Unesco-Welterbestätten. Zu Recht, wie ein Besuch der Anlage, bei dem man das Fahrrad gut mitnehmen kann, zeigt.

Valle Morobbia

Biken lässt sich im Tessin gut mit Baden verbinden. Viele Trails enden am See.
Foto: Florian Lechner

Rings um Bellinzona erheben sich mächtige Berge, die sich hervorragend zum Mountainbiken eignen. Eine Tour, die direkt in der Stadt startet und endet, führt ins Morobbiatal. Je nach Kondition oder Akkuladestand bieten sich unzählige Varianten an. Auf jeden Fall sollte man eine Abfahrtsroute durch die beeindruckenden Kastanienwälder zurück nach Bellinzona wählen. Im Herbst versinkt man hier bis zur Hüfte im Laub, heißt es.

Die Kantonshauptstadt Bellinzona besticht durch die sympathische Altstadt mit der integrierten Burganlage und kleinen Gassen, die zum Entdecken einladen. Auch preislich ist die Stadt für Schweizer Verhältnisse moderat.

Doch natürlich dürfen bei einem Tessin-Besuch die berühmten Seen nicht fehlen. Der Lago Maggiore im Süden ist in Sichtweite. Für Touristen, die in einem Hotel oder auf einem Campingplatz nächtigen, wird das Ticino-Ticket angeboten. Damit können alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos genutzt werden. Und es gibt zahlreiche weitere Vergünstigungen.

Trails, See und Stadt

Locarno, die wärmste Stadt der Schweiz, liegt direkt am Ufer des Lago Maggiore. Dort lässt sich Biken perfekt mit Baden verbinden. Zuerst per Gondel mit dem Rad hinauf auf nach Cardada. Die von Stararchitekten Mario Botta entworfene Bahn bietet spektakuläre Ausblicke auf Locarno und den See.

Dann mit Muskelkraft weiter hinauf nach Cimetta. Bergab geht es hier über eigens dafür angelegte Bike-Trails. Wer einen kundigen Guide oder gute Karten hat, kann im unteren Streckenabschnitt noch Varianten finden, die über Steige direkt zurück nach Locarno führen.

Gute Aussichten bieten auch die Trails rund um den Luganer See.
Foto: Florian Lechner

Aber Vorsicht, wer sich hier abseits offizieller Routen bewegt, sollte technisch versiert sein und gern verblocktes Terrain befahren. Ähnliches, also Trails, See und Stadt, bietet auch das nahe Lugano. Allerdings ist das Städtchen beliebt bei den Reichen und Schönen. Dementsprechend hoch ist das Preisniveau.

Grotto

Dank tausender Sonnenstunden pro Jahr reifen im Tessin auch hervorragende Weine. Der lokale Merlot ist immer einen Schluck wert. Am besten genießt man die regionalen Schmankerl in einem der zahlreichen Grotti.

Die Tessiner Spielart der Buschenschank. Schon Hermann Hesse ließ es sich hier gutgehen. Er verbrachte seine letzten Jahre im Tessin und liegt hier am Friedhof Sant’Abbandio begraben. Das Grotto Morchino in Lugano soll sein Stammlokal gewesen sein.

Mit dem Rad und Öffis lässt sich das Tessin perfekt erkunden. Und das 365 Tage im Jahr. Denn die Winter sind hier mild, und Schnee ist die große Ausnahme. Wer gerne für sich ist, kann in einem der kleinen Seitentäler recht günstig eine Privatunterkunft mieten und von dort aus Entdeckungstouren starten. (Steffen Arora, RONDO, 23.8.2021)