Die Autorin Monisha Rajesh auf dem Weg in die tibetische Hauptstadt Lhasa.

Foto: Marc Sethi

STANDARD: Frau Rajesh, Sie sind sieben Monate lang mit 80 Zügen um die Welt gereist, um zu sehen, ob es die romantische Idee des Bahnreisens noch gibt. Was haben Sie sich darunter vorgestellt?

Monisha Rajesh: Lange war mir die Bahn egal, ich habe sie als Pendlerin in meiner Heimatstadt London genommen, jedoch keine besondere Vorliebe dafür entwickelt. Bis ich vor einigen Jahren Indien bereist habe, um meine Beziehung zu dem Land zu erforschen, es wie eine Touristin zu erleben und nicht wie jemand, der dort familiäre Bindungen hat. Züge entpuppten sich als großartige Möglichkeit, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die ich sonst nie getroffen hätte. Besonders in Übernachtzügen ist man eine Familie auf Zeit, teilt sich das Essen, redet miteinander und trennt sich, sobald man das Ziel erreicht hat. Darin liegt für mich die Romantik: in dieser Zufälligkeit von Begegnungen.

STANDARD: Was gefällt Ihnen an dieser Gemeinschaft, die nur für ein paar Stunden besteht?

Rajesh: Sie bleibt unverändert in einer Blase erhalten, auf ewig, wird nie ein anderes Ende finden als den Moment, in dem ich oder der andere Passagier aussteigt. Auch die Bewegungsfreiheit ist in der Bahn viel größer. Indische Züge beispielsweise sind dermaßen langsam, dass ich die Türen geöffnet habe und auf den Stufen gesessen bin, einen warmen Tee in der Hand, ein Buch im Schoß, und der warme Wind wehte durch meine Haare. Für mich fühlte sich das wie ein langer Campingtrip an.

STANDARD: Menschen, die permanent auf dieses Transportmittel angewiesen sind, empfinden solche Strecken vielleicht als quälend langsam.

Rajesh: Absolut richtig. Das habe ich beispielsweise in der Transmongolischen Eisenbahn erkannt. Im Zug traf ich zwei Russen auf dem Weg von Moskau nach Irkutsk. Einer von ihnen war Anwalt, der die Strecke oft für Gerichtstermine fuhr. Er sagte: "Dieser Zug ist schrecklich, warum um Himmels willen tust du dir das an?" Manche Menschen sparen ein Leben lang darauf, um einmal diese Route zu fahren – und er benutzt sie alle zwei Wochen. Für ihn bedeutete der Zug Arbeit. Er kannte die Landschaft, schaute nicht mehr raus, während andere Reisende alles aufsogen, woran sie vorbeifuhren.

STANDARD: Die britische Schriftstellerin Iris Murdoch teilt Ihre Begeisterung nicht. Über Züge schrieb sie einmal, dass sie voller Fremder seien, ständig gesprächsfreudige Mitreisende und laute Kinder drohten.

Rajesh: Oh, das ist eine typisch englische Einstellung: dieser Horror, unter Fremden zu sein, von denen mich vielleicht einer anspricht. Ich habe das bemerkt, als ich wieder zurück nach London kam. In britischen Zügen gibt es unsichtbare Grenzen, man redet nicht einfach mit jemandem. In asiatischen Kulturen kennt man diese Distanz häufig nicht und tut in einem Zug, was man sonst auch zu Hause macht. Wenn sich jemand die Nägel schneiden muss, tut er das vor Ihren Augen. Oder breitet einen gekochten Fisch auf einer Zeitung vor Ihren Füßen aus, damit er besser essen kann. Falls Sie ein Problem damit haben, müssen Sie damit klarkommen. Niemand wird Ihretwegen damit aufhören. Und das macht ja genau den Reiz solch einer Reise aus: ein Stück weit in eine andere Kultur einzutauchen.

Eine tibetische Nonne zeigt ihren Mitreisenden ein Video vom Klosterleben auf dem Smartphone.
Foto: Marc Sethi

STANDARD: Wie lange im Vorfeld haben Sie die Reise geplant?

Rajesh: Ich habe große Teilstrecken vorher geplant, aber nicht die kleinen Abstecher. Sechs Wochen lang habe ich mich mit Reiseführern hingesetzt, um den groben Ablauf festzulegen. An der Wand habe ich eine große Weltkarte aufgehängt, auf der ich mit Stecknadeln Orte markierte, die mich interessierten. Moskau, Hiroshima, die Chinesische Mauer. Und dann habe ich die wichtigen Langstrecken wie die Transmongolische Eisenbahn etwa vier Monate im Voraus gebucht, mir einen Amtrak-Pass für die USA und den japanischen Rail-Pass besorgt, die mir Flexibilität im Land garantierten.

STANDARD: Was haben Sie für die lange Zeit gepackt?

Rajesh: Fünf T-Shirts, fünf Paar Unterwäsche, drei Paar Stretchhosen, einige Socken, Flip-Flops und ein Paar Wanderschuhe. Ich wusste, ich würde von April bis September durch Europa, Asien und Kanada reisen, daher brauchte ich keine Extremtemperaturen und Daunenjacken zu berücksichtigen. Der Rückweg im Herbst führte durch Tibet und Kasachstan, das Thermometer sank auf minus elf Grad, ich hatte Strickjacken im Gepäck und kaufte mir unterwegs noch Thermo-Unterwäsche, Schals und Mützen. Jedes Mal, wenn wir eine neue Stadt erreichten, suchten wir zuerst nach einem Waschsalon, um alles zu reinigen.

STANDARD: Ursprünglich wollten Sie allein aufbrechen, dann entschloss sich Ihr Verlobter, Sie zu begleiten. Wie hat sich dadurch die Reisedynamik verändert?

Rajesh: Ich war weniger nervös, Länder wie Nordkorea zu bereisen. Ich hätte diese Reise allein gewagt, aber zu zweit fühlte ich mich sicherer. In meinem Hinterkopf hatte ich den beruhigenden Gedanken: Wenn etwas passiert, sitzen wir beide im Schlamassel.

STANDARD: Sie konnten mit den Langstreckenzügen zwei Ihrer Lieblingsbeschäftigungen verbinden: um die Welt zu reisen und im Bett zu liegen. In welchem haben Sie besonders gut geruht?

Rajesh: Im Zug von Malaysia zurück nach Thailand. Die Abteile waren beinahe so groß wie ein ausgeklapptes Doppelbett, zwei Personen konnten mühelos auf einer Liege für einen Passagier schlafen, sodass wir unser Gepäck einfach auf der oberen Liege deponierten. Nach dem Essen legten wir uns aufs Bett und schauten auf dem Laptop Game of Thrones. Das Ticket war ziemlich günstig, etwa 25 Pfund, also 28 Euro, für eine Strecke von 26 Stunden. Und dann erst das Essen!

STANDARD: Jetzt werden Sie richtig euphorisch!

Rajesh: 150 thailändische Baht, also vier Euro, für ein frisch gekochtes Drei- oder Vier-Gänge-Menü. Gebratener Fisch oder Fleisch, Suppe, ein rotes Enten-Curry und Ananas zum Nachtisch. Den Speisewagen liebe ich am meisten an einem Zug. Ganz besonders in Asien, weil ich ein Fan der dortigen Küchen bin. Mir gefällt es, nach dem Einsteigen zum Restaurantwagon zu gehen, mir das Menü anzuschauen und auszumalen, wie es in ein paar Stunden schmecken wird. Das Essen ist zudem eine wunderbare Gelegenheit, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

STANDARD: Welche Voraussetzung muss jemand mitbringen, um einen solchen Trip mitzumachen?

Die Höhenkrankheit macht Zugreisen in Tibet mitunter zu einer erschöpfenden Angelegenheit.
Foto: Marc Sethi

Rajesh: Du darfst keinen übermäßigen Sinn für Privatsphäre haben. Du darfst dich nicht daran stören, dass laufend Menschen in dein Abteil kommen oder daraus wieder verschwinden. Der Zug ist ein Mikrokosmos. Wenn ich einen Querschnitt einer Gesellschaft, eines Landes auf engem Raum sehen will, könnte ich mir keinen besseren Ort vorstellen. Ich erinnere mich, dass ich in den USA einen Mann kennenlernte, der offensichtlich obdachlos war. Er trug keine Socken, nur alte Sneakers, und schlief in einer gebeugten Stellung auf dem Boden, den Kopf auf den Sitz gebettet. Als er morgens einen Kaffee trank, kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er seine Arbeit als Koch verloren hatte und auf dem Weg zu seinen Kindern sei. Hätte ich ihn auf der Straße gesehen, wäre ich vermutlich an ihm vorbeigelaufen – im Zug unterhielten wir uns zwanglos über sein Leben.

STANDARD: Welche Strecken lohnen sich wegen der tollen Aussicht?

Rajesh: Viele europäische Routen, zum Beispiel die von Oslo nach Bergen, über verschneite Pässe hinunter zu atemberaubenden Fjorden. Oder der Zug von Xining nach Lhasa in Tibet. Eine der sehenswertesten Landschaften. Ich erinnere mich, wie ich morgens das Rollo hochzog und ein kristallklares Licht ins Abteil strömte. Ein gelber Streifen, der am Horizont auf einen hellblauen traf – die Hochebene, die an den Himmel stieß. Das Plateau schien endlos, die schneebedeckten Berge an seinem Ende Tagesreisen entfernt. Plötzlich sah ich Yaks, Zelte von Nomaden, zerklüftete Felsen, einen blauen Ozean – das war ein See, der an der Strecke lag. Sobald du aus dem Zug steigst, spürst du diese trockene dünne Luft, scharf wie Glas, die dir den Verstand raubt. Das war eine unwirkliche Erfahrung.

STANDARD: Anders als das schöne Panorama draußen ist der hygienische Standard in Eisenbahnen oft gewöhnungsbedürftig. Als besonders schlimm beschreiben Sie den Limited Express von Hanoi nach Danang.

Rajesh: Das waren alte Wagons, die unten bereits rosteten. Die Farbe blätterte von der Wand, aus der Klimaanlage quollen Büschel, und die Decke war mit schwarzem Schimmel befleckt. Nachts platzte das Rohr unter dem Waschbecken, und Wasser flutete den Korridor. Wir haben zum Glück durchgeschlafen und sind am nächsten Morgen ausgestiegen.

STANDARD: Tief drinnen faszinieren Sie diese fahrbaren Müllcontainer. Sie sagen: "Als wäre es ein Test, wie lange ich aushalten würde, bis ich mir eine Infektion zuziehe." Und, wie lange hat es gedauert?

Rajesh: Auf dieser Strecke sind wir nicht krank geworden. Körperlich und geistig habe ich einen Widerstand gegen Dreck aufgebaut. Ich kenne Menschen in Indien, die mich entgeistert ansehen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich vier Monate in indischen Zügen verbracht habe. Sie würden eine Zugfahrt nur mit Handschuhen und Überzugslippern für die Toiletten ertragen. Na ja, manche Menschen liefern sich einer solchen Situation nicht aus und verpassen wegen eines geringfügigen Ärgernisses so viele Abenteuer. Ich glaube, dass man dadurch nur in seiner Blase bleibt. Klar riecht die Toilette nach einer Nachtfahrt nicht hervorragend, aber kann man sich nicht für ein paar Minuten die Nase zuhalten?

STANDARD: Nach jedem längeren Abschnitt haben Sie in Hotels geschlafen. Weil Sie endlich ausruhen wollten?

Rajesh: Nein, nach einer Weile hatten sich unsere Körper an das Rattern der Schienen gewöhnt. Wenn wir im Hotel übernachteten, vermissten wir das sogar ein wenig, diese ständige Bewegung. Ich weiß noch, unsere letzte Etappe führte mit dem legendären Orient-Express von Venedig nach London. Als wir morgens in Paris ankamen, krochen die anderen Passagiere aus ihren Abteilen, ich sah ihnen an, wie schlecht sie geruht hatten, aber wir hatten die ganze Nacht tief durchgeschlafen.

STANDARD: War es das eigene Bett, was Sie am Ende am meisten vermissten?

Rajesh: Nein, mir fehlte es, einen Tee zu trinken, ein Schinkensandwich zu essen und im Pyjama in der Wohnung herumzulaufen.

STANDARD: Jetzt sind Sie seit Monaten zu Hause. Von welchen Zugreisen träumen Sie?

Rajesh: Ich möchte einmal The Ghan nehmen, den Zug, der von Adelaide nach Darwin quer durchs Outback rattert. Drei Tage Fahrt, unterwegs kann man kleine Ausflüge buchen. Mein nächstes Buchprojekt dreht sich jedoch um Nachtzüge in Europa, die wieder beliebt werden. Da fällt es auch leichter, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Denn ansonsten passiert in europäischen Zügen wenig, weil oft noch das Motto gilt: Bitte sprechen Sie mich nicht an! (Ulf Lippitz, RONDO, 21.8.2021)