Eine Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie der Uni Innsbruck kam zu dem Schluss, dass 72 Prozent der befragten Inhaftierten mindestens einmal Opfer von Gewalt wurden. Die Öffentlichkeit bekommt davon kaum etwas mit.

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"Ich fühle mich weder ungerecht noch schlecht behandelt. Mir ist nur fad", schreibt ein User auf Twitter unter dem Namen "Inside JA Josefstadt". Er behauptet, selbst Inhaftierter zu sein, der nur berichten wolle, wie das Leben hinter Gittern sei. "Das bedeutet aber nicht, dass man nicht noch etwas verbessern könnte im Strafvollzug." Dass ausgerechnet ein Inhaftierter selbst seit Anfang August aus der Justizanstalt Wien-Josefstadt twittert, wurde sogar medial berichtet. Warum? Weil Stimmen aus dem Strafvollzug selten sind, was ihm selbst immer wieder zum Verhängnis wird.

Blicke hinter die Mauern der Gefängnisse sind selten. Die Volksanwaltschaft und der UN-Ausschuss gegen Folter haben Zutritt, ebenso das Komitee gegen Folter des Europarats. In Zeiten der Pandemie sind Haftanstalten noch abgeschotteter – auch Journalistinnen und Journalisten ist es derzeit nicht erlaubt, Gefängnisse von innen zu sehen oder mit ihren Insassen zu sprechen. Interviews mit Inhaftierten werden in der Regel vom Ministerium untersagt: "Jeder Außenkontakt ist verboten."

Der Tod des Ali C.

Brisant wird das, wenn es hinter Gittern zu Todesfällen kommt. Misstrauen hegt etwa Zeudi C., dessen Sohn Ali am 6. April im Klinikum Krems verstarb. Wenige Stunden zuvor war der 38-Jährige in einer Einzelzelle in der Justizanstalt Krems-Stein aufgefunden worden: Weil er nicht ansprechbar war, leisteten die Justizwachen Erste Hilfe, sagt das Justizministerium. Während die Eltern des verstorbenen Profiboxers auch über eine angebliche Beruhigungsspritze spekulieren, dementiert das Justizministerium vehement. Es gebe vorerst "keine Anzeichen für Fremdverschulden".

Auch wenn der Obduktionsbericht noch aussteht, zeigt der Fall Ali C. das Dilemma eines nach außen abgeschotteten Strafvollzugs. Je weniger die Betroffenen und ihre Angehörigen wissen, desto misstrauischer werden sie. "Ich bin mir sicher, dass sich mein Sohn nicht selbst umgebracht hat", sagt der der Vater von Ali C.

72 Prozent erlitten Gewalt

Eine Diskussion darüber, was das Gefängnis ist und was dort in puncto Resozialisierung passieren soll, ist heute kaum mehr existent. Das zumindest findet Arno Pilgram. Er forscht am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) der Uni Innsbruck seit Jahrzehnten zum Strafvollzug.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Instituts kam zu dem Schluss, dass 72 Prozent der befragten Inhaftierten mindestens einmal Opfer von Gewalt geworden sind. Im Jugendstrafvollzug liegen die Zahlen noch deutlich höher. Fast jede zweite Gewalterfahrung geht auf Justizpersonal zurück. Nur: Durch die praktizierte Abschottung der Gefängnisse bekommt niemand etwas davon mit.

Telefonat zwei Tage vor Tod

Auch niemand mitbekommen hat, was sich vor dem 6. April in der Einzelzelle von Ali C. zutrug – zumindest niemand außerhalb der Mauern. Wenige Tage zuvor habe der Vater von Ali C. mit seinem Sohn telefoniert. Da sei er noch gesund gewesen, sagt der Vater. Außerdem habe er über ständige Provokationen des Justizpersonals geklagt. Sein Sohn sei auch während der Haft mehrmals in Schlägereien verwickelt gewesen.

Kurz vor seiner Entlassung kam der Anruf des Sozialen Dienstes: Der Sohn ist tot, hieß es. Der Vater fuhr daraufhin ins Klinikum Krems und wollte mehr Informationen, die man ihm dort nicht geben konnte. Das Justizministerium sagt, es wurden alle Informationen weitergegeben, die der Justizanstalt vorlagen. "Ich will wissen, was mit meinem Sohn passiert ist", sagt der Vater heute und kündigt eine weitere Untersuchung des Leichnams an.

77 Minuten

In der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Neos wird das Justizministerium konkreter: Um 5.30 Uhr wurde C. in auffälliger Position und bei offenem Haftraumfenster vom Wachpersonal gefunden. Da er nicht ansprechbar war, sei sofort Erste Hilfe geleistet worden, 25 Minuten später wurde der Notarzt verständigt. Eine Stunde und 17 Minuten nach seinem Auffinden verließ Ali C. im Rettungswagen das Gefängnis, um im Krankenhaus Krems intensivmedizinisch behandelt zu werden. Um 10.47 Uhr konnte nur noch der Tod festgestellt werden.

Das Justizministerium sagt, dass C. als unauffällig galt und es keinen Bedarf an spezieller Überwachung gab. Routinemäßig sei die Staatsanwaltschaft über den Todesfall informiert worden, einen Anlass für disziplinarrechtliche Schritte habe es bislang nicht gegeben. Solange kein Obduktionsergebnis vorliegt, sind diese Angaben nicht überprüfbar.

Prinzipiell seien Amtsmissbrauch oder Korruption innerhalb der Haftanstalten besonders schwierig nachzuweisen, sagt Pilgram vom IRKS. Dem Sicherheitsbericht 2019 des Justizministeriums zufolge beträgt der Anteil an Verurteilungen im erwähnten Deliktsbereich mit einem Prozent einen Bruchteil der üblichen Werte bei Strafverfahren. Zudem sei die Einstellung von Verfahren in dem Bereich besonders häufig.

Corona-Cluster in Simmering

Die Intransparenz manifestiert sich auch während der Pandemie: In der Justizanstalt Wien-Simmering wütete im Frühsommer ein Corona-Cluster. Das bestätigt auch das Justizministerium. So seien zu Hochzeiten im Mai 14 Bedienstete und 24 Insassen positiv auf Covid-19 getestet worden. Mitte April meldete das Ministerium noch keinen einzigen positiven Fall.

Dem widerspricht ein Inhaftierter: "Der Beginn des großen Corona-Ausbruchs war schon vor der Osterruhe Anfang April." Der Mann am anderen Ende der Leitung spricht mit gedämpfter Stimme, er will anonym bleiben. Das Handy, mit dem er anruft, besitzt er illegal. Mit dem Anstaltstelefon kann er nur eine Handvoll genehmigter Nummern anrufen, nicht aber Journalisten. Glaubt man dem Inhaftierten also, wurde anfangs versucht, den Covid-Ausbruch zu vertuschen. Das Ministerium aber bestreitet dies: "Es besteht kein Verdacht, die Justizanstalt wäre ihren Meldepflichten nicht nachgekommen." Wer also hat recht?

Auch der aktuelle unerlaubte Einblick in die Justizanstalt Wien-Josefstadt über den Twitter-Kanal "Inside JA Josefstadt" weckt Misstrauen im Ministerium: "Es wurden Mobil-Finder eingesetzt und Hafträume durchsucht." Weil dabei kein Handy gefunden wurde, gehe man davon aus, dass der Twitter-Account nicht von einem Insassen oder einer Insassin betrieben werde, lässt das Justizministerium wissen.

Message-Control

Früher hätten Anstalten ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit betrieben, die oft auch das Ministerium herausforderte oder Forderungen stellte, erinnert sich Arno Pilgram. Inzwischen würden diese die Message-Control-Auflagen erfüllen. "Sie stehen vor dem Dilemma, den eigenen Berufsstand vor Angriffen zu schützen. Das kann als Korpsgeist ausgelegt werden." Dazu kommt die chronische Unterfinanzierung der Anstalten.

Aber auch im Gefängnis sieht Pilgram Verbesserungspotenzial: Mit der Förderung von Gefangenengewerkschaften und Gefangenensprechern könnten Missstände artikuliert und bemerkt werden. Das Problem sei allerdings, so der Kriminalsoziologe, dass die Öffentlichkeit heute kaum einfordert, Licht auf die Blackbox Gefängnis zu werfen. "Die Leute sind ja ganz zufrieden, sich nicht um Delinquenten kümmern zu müssen."

Bis dahin werden es weiterhin unerlaubte und kaum verifizierbare Wege sein, über die Informationen von innerhalb der Gefängnismauern nach außen dringen. Das bekommt auch der Twitter-User hinter "Inside JA Josefstadt" mit und kündigt eine kurze Pause an: "Offenbar wird intensiv gesucht und gescannt. Baba. Lasst euch net erwischen." (Christof Mackinger, Laurin Lorenz, 17.8.2021)