Barbara Blaha, Chefin des Momentum-Instituts, kritisiert in ihrem Gastbeitrag, dass man gegen mutmaßlichen Sozialleistungsbetrug im Kleinen massiv vorgeht – verglichen mit den "großen Fischen".

Anfang August rückte die Finanzpolizei zu einer Großaktion aus. 180 Bedienstete des Finanzministeriums sowie der zuständigen Landespolizeidirektionen straften 180 Sozialleistungsbezieher, die ihre Grenzübertritte nicht angemeldet hatten. Das Finanzministerium präsentierte den "großen Fang" stolz den Medien. Im Netz landeten ganz kleine Fische: eine Frau, die gelegentlich ihre Eltern in Tschechien besucht. Eine Asylwerberin, die – wohl um Geld zu sparen – in die Slowakei zum Einkaufen gefahren ist. Diese Nichtigkeiten werden als mutmaßlicher Sozialleistungsbetrug verfolgt und aufs Härteste bestraft. Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?

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Werden nur die kleinen Fische gejagt und die großen lässt man eher in Ruhe?
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Selbst wenn es sich um eine Versicherungsleistung handelt, für die man eingezahlt hat: Mit Sozialleistungen geht oft eine extreme Einschränkung des Bewegungsradius einher. Arbeitslose Menschen müssen beim AMS alle Auslandsaufenthalte ankündigen. Ein spontaner Besuch im grenznahen Shoppingcenter, wie ihn Leute in Grenzregionen gewohnt sind, ist für sie illegal. Ebenso der Besuch bei Verwandten im Nachbarort, liegt dieser auf der anderen Seite der Staatsgrenze. Sozialleistungsbezieher, meist arme Menschen, leben damit nur mehr auf dem Papier im "vereinten Europa". Die Exekutive greift mit voller Härte des Gesetzes durch, kratzt armutsbetroffenen Menschen die sprichwörtliche Butter vom Brot: Wer seinen (kleinen) Grenzübertritt nicht anmeldet, muss rückwirkend die bezogenen Sozialleistungen zurückzahlen. Obendrauf kommen noch empfindliche Geldstrafen, obwohl Sozialleistungsbezieher meist ohnehin kaum genug zum Leben haben. (Neun von zehn arbeitslosen Menschen erhalten ein Arbeitslosengeld in der Höhe von weniger als 1200 Euro, und das nur zwölfmal im Jahr.)

Mehr Entgegenkommen

Deutlich mehr Entgegenkommen können sich Unternehmen erwarten. Kapital, das vor allem Reiche ihr Eigentum nennen, darf oft uneingeschränkt reisen – auch wenn das den Staat teuer kommt, etwa durch das Verschieben von Gewinnen ins Ausland. So entgehen dem Fiskus jährlich hunderte Millionen an Steuereinnahmen, weil große Konzerne bzw. deren Besitzer ihre Gewinne in Steuersümpfen bunkern. Die großen Fische lässt man durchschlüpfen. Denn überprüft wird zu wenig, das Personal der Finanzämter für die Steuerprüfungen wurde gekürzt, wie selbst der Rechnungshof kritisierte.

Die Dimension des Betrugs ist zudem viel größer: Überstunden im Wert von 682 Millionen Euro wurden allein im letzten Jahr nicht bezahlt, den Arbeitnehmern ihre Arbeitsleistung also gestohlen. Praktisch, dass die Verfallsfristen, um Überstunden einzufordern, zum Teil sehr kurz sind, oftmals ist schon nach drei Monaten nichts mehr einklagbar. Eine Taskforce der Regierung sucht man hier vergeblich.

Dafür hat die Regierung noch laschere Regeln für Unternehmen beschlossen. Das "Kumulationsprinzip" bei Verwaltungsstrafen wurde abgeschafft. War es bisher so, dass eine fehlende oder falsche Zeitaufzeichnung für jeden Mitarbeiter einzeln bestraft wurde, gilt heute: Egal wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sind, die Strafe ist nur einmal fällig. Wer vorsätzlich manipuliert, kommt jetzt billiger davon. Die Wirtschaftskammer lobte ebenso wie die Industriellenvereinigung diesen Schritt als "spürbare Erleichterung für Unternehmen". Der Wirtschaftsbund freute sich, dass nun "mit Augenmaß" vorgegangen würde. Jenes Augenmaß, das auf der anderen Seite fehlt.

Warum die Symbolpolitik?

Dass die Strafen bei Sozialleistungsdelikten für Arme unverhältnismäßig hart ausfallen, ist auch dem Finanzministerium klar. Warum die Symbolpolitik, Pressekonferenz für Pressekonferenz? Es geht eben auch darum, jene Stigmatisierung zu verstärken, mit der Sozialleistungsbezieher ohnehin zu kämpfen haben. Je stärker man sie ins (hoch)kriminelle Eck rückt, desto einfacher ist es, den Bezug von Sozialversicherungsleistungen generell zu delegitimieren. Bis irgendwann hängenbleibt: Jeder Arbeitslose muss ein Krimineller sein.

Dieses Stigma ist nicht nur für die direkt Betroffenen ein Problem, sondern für alle. Bagatellisiert das Finanzministerium grobe Verletzungen des Arbeitsrechts auf Unternehmerseite, während es Gesetzesübertretungen auf Arbeitnehmerseite aufbläst, trifft das auch jene, die Arbeit haben und unter unfairer Bezahlung und miesen Arbeitsbedingungen leiden. Ihr Kampf dagegen wird erschwert, ihre Kraft dagegen aufzutreten im Keim erstickt. Denn eine Kündigung würde einen zum vermeintlich kriminellen Arbeitslosen machen. Der Sozialstaat verliert damit seine Schutzfunktion. Und zwar für alle. (Barbara Blaha, 17.8.2021)