US-Präsident Joe Biden verteidigt den Truppenabzug aus Afghanistan.

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Ein US-Soldat auf einem Archivbild aus dem Jahr 2010 in der Nähe von Bagram.

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US-Soldaten sichern den Flughafen Kabul, um Landsleuten und anderen Ausländern eine sichere Abreise gewährleisten zu können.

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Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban hat US-Präsident Joe Biden Fehler bei der Einschätzung der Lage in Afghanistan eingeräumt, zugleich aber seine Entscheidung zum Rückzug vehement verteidigt.

Ausschnitte aus der Rede von Joe Biden
DER STANDARD

Die Szenen, die sich in Kabul abspielten, zerrissen einem das Herz, sagte er am Montag im Weißen Haus, wo er sich in einer live von allen großen amerikanischen Fernsehsendern übertragenen Ansprache an seine Landsleute wandte. Der Abzug sei hart, er verlaufe chaotisch, er sei alles andere als perfekt. Die Fakten, mit denen man es derzeit vor Ort zu tun habe, schmerzten ihn zutiefst, gestand er ein, ohne allerdings konkreter zu werden. Wo Biden Ansätze von Selbstkritik erkennen ließ, beließ er es bei Allgemeinplätzen, ohne im Detail auf eigene Irrtümer einzugehen oder Vokabeln wie Fehlurteil zu benutzen. "Wir hatten die Risiken klar im Auge", verteidigt er sich und seine Berater. "Wir waren auf jede Eventualität vorbereitet. Aber die Wahrheit ist, die Dinge haben sich schneller entwickelt, als wir es erwartet hatten."

In schnörkelloser Prosa wiederholt der Präsident die vernichtenden Urteile, die einige seiner Minister bereits zuvor über die gestürzte afghanische Regierung und deren Armee gefällt hatten. Die politische Führung in Kabul habe aufgegeben und sei geflohen. Das Militär, mit milliardenschwerer Hilfe von den Amerikanern unterstützt, sei in sich zusammengefallen, in einigen Fällen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, gegen die Taliban zu kämpfen, sagt er. Die USA hätten den afghanischen Truppen "alle Werkzeuge gegeben, die sie brauchen", sagte Biden. "Sie haben in allem versagt."

"Richtige Entscheidung"

Während manche Republikaner Biden ankreiden, durch Schuldzuweisungen dieser Art von eigenen Versäumnissen ablenken zu wollen, geht der in Bedrängnis Geratene hart ins Gericht mit dem afghanischen Ex-Präsidenten Ashraf Ghani, den er noch im Juni im Weißen Haus empfangen hatte. Er habe Ghani ans Herz gelegt, im Dialog mit den Taliban nach einer Lösung zu suchen, wörtlich: "echte Diplomatie zu betreiben". Dies sei rundheraus abgelehnt worden. Wenn die Ereignisse der vergangenen Woche etwas gezeigt hätten, dann dies: "Die Militärpräsenz der USA in Afghanistan jetzt zu beenden war die richtige Entscheidung".

Es stehe in fester Überzeugung zu seinem Rückzugsbeschluss, stellt Biden klar. Er habe die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, US-Soldaten nicht auf unbestimmte Zeit in den Bürgerkrieg eines anderen Landes verwickeln wollen. "Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen, den die afghanischen Streitkräfte selber nicht zu führen bereit sind."

Letztlich habe es niemals einen guten Zeitpunkt für den US-Truppenabzug gegeben, sagte Biden. Aber er wolle "diese Entscheidung nicht an einen weiteren Präsidenten übergeben". Eine dauerhafte Militärpräsenz liege nicht im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten. Es sei nicht das, was das amerikanische Volk wolle. Was momentan in Afghanistan geschehe, wäre zwangsläufig auch dann geschehen, wenn man den Abzug um einige Jahre verschoben hätte, orakelt der 78-Jährige.

Wo ist die Kompetenz?

Bei der Kritik, die dem Mann im Oval Office entgegenschlägt, geht es allerdings weniger um die Abzugsentscheidung an sich, mehr um ein Krisenmanagement, das im Fiasko endete. Ausgerechnet unter einem Präsidenten, der im Wahlkampf mit seiner Kompetenz für sich warb, mit fast 50 Jahren Erfahrung in den Spitzenetagen der Politik, mit einem weltweiten Kontaktnetzwerk, wie nur wenige es aufbieten könnten. "Warum hat man sich nicht eingestellt auf die sich abzeichnende Katastrophe? Warum hat man den Abgang nicht besser geplant?", fragt Robin Wright, eine Afghanistan-Kennerin, deren Analysen regelmäßig in der Zeitschrift "The New Yorker" erscheinen.

Der republikanische Senator Mitt Romney, normalerweise eher als manche Gefolgsleute Donald Trumps zu Kompromissen mit Biden bereit, spricht von einem derzeit noch kaum abzuschätzenden Schaden für die "Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Ehre unserer Nation". Er könne nicht verstehen, warum der Abzug zu solch tragischen menschlichen Kosten und ohne "effektive Strategie zum Schutz unserer Partner" erfolge.

"Gefühllosigkeit" Bidens

Das Außenministerium, bemängelt Romneys Parteifreund Michael Waltz, Kongressabgeordneter und Afghanistan-Veteran, habe hilfesuchenden Ortskräften durch eine schleppende Bearbeitung von Visa-Anträgen viel zu lange bürokratische Hürden in den Weg gestellt. Waltz wirft Biden eine "Gefühllosigkeit" vor, die im Falle eines nächsten Konflikts das Schmieden lokaler Allianzen immens erschweren dürfte. "Wer wird uns jetzt noch vertrauen? Wer wird uns so sehr vertrauen, dass er nicht nur sein eigenes Leben, sondern das seiner gesamten Familie riskiert, um an der Seite der Vereinigten Staaten zu stehen?"

So hart die Kritik auf den Präsidenten einprasselt, so ungerecht ist sie in den Augen derer, die ihn verteidigen. Das zentrale Argument: Biden habe nicht ahnen können, dass die afghanische Armee unter dem Druck der Taliban praktisch zerfällt, ohne auch nur einigermaßen ernsthaften Widerstand zu leisten. 83 Milliarden Dollar, rechnet das Weiße Haus vor, habe man im Laufe der Jahre für die Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte Afghanistans ausgegeben. Dass 300.000 Soldaten derart schnell kapitulieren würden, habe niemand vorhersehen können.

Tatsächlich wurden die Fehlurteile, die manche nun allein dem Staatschef und seinen Beratern ankreiden, von erfahrenen Diplomaten noch vor kurzem geteilt. Zu ihnen gehört Ryan Crocker, 2011/12 Botschafter in Kabul. Er rechne mit einem sich länger hinziehenden Bürgerkrieg, orakelte er noch vor acht Tagen in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC. Ein solches Szenario sei viel wahrscheinlicher als eine schnelle Machtübernahme durch die Taliban.

An der Entscheidung zum Rückzug, macht die US-Regierung trotz heftiger Debatten deutlich, wird sich nichts mehr ändern. Biden habe einen Militäreinsatz beendet, den eine Mehrheit der Amerikaner längst nicht mehr unterstützt habe, betont Antony Blinken, der Außenminister. "Sieht man es mit den Augen unserer strategischen Rivalen in aller Welt, so gibt es nichts, was ihnen lieber wäre, als dass wir für weitere fünf, zehn oder zwanzig Jahre in Afghanistan blieben", skizziert er das geopolitische Kalkül.

"Schönfärberei" Blinkens

Gleichwohl muss sich auch Blinken den Vorwurf der "Schönfärberei" gefallen lassen. Bei "Meet the Press" des Senders NBC hatte er den durch die Anschläge am 11. September 2001 ausgelösten Truppeneinsatz am Hindukusch als Erfolg charakterisiert. Sollten Terroristen erneut in Afghanistan Fuß fassen, hatte er argumentiert, seien die USA sehr viel eher als vor zwanzig Jahren in der Lage, sie rechtzeitig zu bekämpfen. (Frank Herrmann aus Washington, 16.8.2021)

Update um 22:56 Uhr: Passagen aus abendlicher Biden-Rede wurden eingefügt.