Es ist noch kein Vierteljahr her, als der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedsstaaten vor aller Welt vorführte. Er erzwang mit Kampfjets die Landung eines unter irischer Flagge registrierten Passagierjets, der auf dem Flug von Athen nach Vilnius war, in seiner Hauptstadt Minsk. Ziel war die Verhaftung eines belarussischen Journalisten und Oppositionellen. Quasi nebenbei aber zeigte der von Moskau unterstützte Machthaber, was von der Außen- und Sicherheitspolitik der EU und ihrer vielen nationalen "Köche" – den Regierungen – zu halten ist, wenn es hart wird: wenig bis nichts.

Afghanische Zivilisten am Flughafen in Kabul.
Foto: AFP/WAKIL KOHSAR

Völlig zu Recht waren viele Menschen im gemeinsamen Europa nach dem Vorfall schockiert. Von Athen ins litauische Vilnius zu fliegen, das ist ein EU-Binnenflug. Ende Mai konnten alle sehen, dass die EU nicht einmal in der Lage ist, die Sicherheit der eigenen Staatsbürger auf einem Ferienflug zu garantieren.

Nach dem, was sich in diesen Tagen in Afghanistan abspielt, erscheint das Intermezzo dieser Flugzeugentführung nachträglich jedoch wie ein bizarrer, aber harmloser Testlauf. Nun stellt sich in einer viel dramatischeren Dimension heraus, dass die Gemeinschaft und die Regierungen der Mitgliedsländer selbst dann nicht handlungsfähig sind, wenn wahrlich das Leben einiger hundert EU-Bürger auf dem Spiel steht.

Evakuierungsaktion

Diese Zahl wurde genannt, als Sonntagabend die größte Evakuierungsaktion gestartet wurde, die die EU je zu bewältigen hatte. Zählt man zu all den Diplomaten und EU-Bediensteten, um die es ging, noch die afghanischen Mitarbeiter, Dolmetscher, Helfer etc. hinzu, die für europäische Einrichtungen (oder NGOs) im Afghanistan-Einsatz arbeiteten, kommt man leicht in den vierstelligen Bereich.

Das Schockierende: Obwohl sich der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung seit Tagen abgezeichnet hatte, waren die EU-Institutionen und -Regierungen nicht vorbereitet. Es fehlte an Flugzeugen, an verlässlichen Informationen vor Ort. Während die USA und Großbritannien (seit Anfang 2020 kein EU-Land mehr!) schon vor dem Wochenende tausende Soldaten und Flugzeuge vorbereitet hatten, um nötige Evakuierungen durchzuführen, schlummerten die EU-Regierungen im Sommerurlaub. Nun musste man die USA um Hilfe anbetteln. Viel schlimmer lässt sich das Ausmaß der sicherheitspolitischen Unfähigkeit nicht darstellen. Wer soll diese Europäer ernst nehmen, die sich sonst so gerne der Illusion ihrer "Weltpolitikfähigkeit" hingeben – vom Kampf gegen den Klimawandel bis hin zur Schaffung einer neuen solidarischen Wirtschaftsordnung? Fairerweise muss man sagen: Sie waren nicht die Einzigen, die die Dynamik der Machtübernahme durch das Taliban-Regime unterschätzt haben. Noch vor kurzem hatte US-Präsident Joe Biden erklärt, dass er von einem friedlichen Übergang nach dem Abzug der alliierten Truppen ausgehe. Afghanistan endet für die USA chaotisch. Aber das hilft den Europäern wenig.

Schon wartet die nächste Herausforderung: EU-Staaten müssen zigtausend Flüchtlinge aufnehmen. Es fehlt dabei jegliche Strategie. Stattdessen schwadronieren manche Länder – in Österreich der Innenminister – nach wie vor über weitere Abschiebungen. Die EU erweist sich als ein ziel- und willenloses Gebilde, findet keinen Weg, mit den großen Krisen in der Welt umzugehen. Erschreckend. (Thomas Mayer, 17.8.2021)