Hochwasser in Santo Domingo.

Foto: AFP/ERIKA SANTELICES

Port-au-Prince – Die Zahl der Todesopfer nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti hat sich auf fast 2.000 erhöht. Nach Angaben der Zivilschutzbehörde vom Dienstag starben 1.941 Menschen, mehr als 9.900 wurden verletzt. Durch das Beben der Stärke 7,2 wurden am Wochenende mehr als 60.000 Häuser zerstört und 76.000 beschädigt, teilte die Behörde mit.

Das Beben hatte sich Samstagfrüh nahe der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud östlich der Stadt Les Cayes in einer Tiefe von rund zehn Kilometern ereignet. Nach Unicef-Angaben waren 1,2 Millionen Menschen betroffen. Die Not war groß in dem Gebiet, das fünf Jahre zuvor von Hurrikan Matthew verwüstet worden war. Laut Caritas International wurden Nahrung, Trinkwasser, Zelte und medizinische Erstversorgung benötigt.

52 Menschen ausgeflogen

Es gab allerdings auch kleine Hoffnungsschimmer: Am Dienstagmorgen, drei Tage nach dem Beben, wurden nach Angaben des Zivilschutzes in der Ortschaft Brefèt aus den Trümmern eines früheren UN-Gebäudes 16 Menschen lebend geborgen. Auch kam allmählich Hilfe in der Erdbebenregion an. Die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) flog nach eigenen Angaben 52 Menschen zur medizinischen Behandlung aus. Die Krankenhäuser in der Gegend waren überlastet, schlecht ausgestattet, personell unterbesetzt und selbst beschädigt.

Fehlende oder – nach dem Erdbeben im Jahr 2010 immer noch – beschädigte Infrastruktur drohte die Hilfs- und Rettungseinsätze zu behindern. Auch wegen Kämpfen zwischen Banden um Territorium ist die Fernstraße, die die Hauptstadt Port-au-Prince mit Haitis Süden verbindet, häufig unpassierbar. Am Dienstag fegte zudem ein Tropensturm mit starkem Regen über das betroffene Gebiet im Süden Haitis hinweg, auch über die vom Erdbeben schwer getroffene Halbinsel Tiburon, wo zehntausende Menschen obdachlos geworden waren.

Überschwemmte Straßen

Grace erstarkte in der Nacht auf Dienstag laut US-Hurrikanzentrum von einem Tiefdruckgebiet zu einem Tropensturm und zog mit anhaltenden Windgeschwindigkeiten um die 65 Stundenkilometer über den Süden der Insel Hispaniola hinweg, auf der Haiti und die Dominikanische Republik liegen.

Videos in sozialen Medien zeigten überschwemmte Straßen. Auf der vom Erdbeben am Samstag schwer getroffenen Halbinsel Tiburon stand das Wasser stellenweise knöchelhoch, wie auf Bildern zu sehen war. Die Bewohner der Gegend, von denen viele bisher im Freien schliefen, suchten etwa in Zelten und unter Planen notdürftig Schutz.

In dem vom Erdbeben beschädigten allgemeinen Krankenhaus von Les Cayes – mit einer Bevölkerung von etwa 90.000 Menschen die größte Stadt im betroffenen Gebiet – waren Patienten zunächst im Innenhof untergebracht worden. Wegen des Regens wurden sie aber hineingebracht, wie der Journalist Frantz Duval auf Twitter berichtete. "Das Dilemma an diesem Morgen: der Schlamm im Freien oder das rissige Gebäude – wo ist man besser geschützt", schrieb er.

Kritik an Regierung: "Totales Chaos"

In Haiti, dem ärmsten Land Amerikas, waren bei einem Erdbeben der Stärke 7,0 im Jänner 2010 mehr als 220.000 Menschen ums Leben gekommen und mehr als eine Million Menschen obdachlos geworden. Der Wiederaufbau litt stark unter Korruption und Verschwendung. Fehlende oder beschädigte Infrastruktur drohte die Hilfs- und Rettungseinsätze nach dem neuen Beben zu behindern. Auch wegen Kämpfen zwischen Banden um Territorium ist die Fernstraße, die Port-au-Prince mit Haitis Süden verbindet, häufig unpassierbar. Diese Gewalt trieb allein im Juni nach UN-Zahlen rund 15.000 Menschen in die Flucht.

Die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH kritisierte den Umgang der Regierung mit der Katastrophe als "totales Chaos". "Sie sind völlig sich selbst überlassen", hieß es hinsichtlich der Erdbebenopfer. Einige suchten auf eigene Faust nach Zelten zum Schutz vor dem Unwetter. Vor personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Krankenhäusern warteten verzweifelte Verletzte.

Interims-Premierminister Ariel Henry kündigte bei Twitter schnellere Arbeit an. "Wir werden unsere Energien verzehnfachen, um die größtmögliche Zahl von Opfern zu erreichen und ihnen zu helfen", schrieb er. Henry ordnete auch drei Tage Staatstrauer ab Dienstag an.

Haitis ohnehin schwer unterfinanziertes Gesundheitssystem ist durch die sich zuletzt verschlimmernde Pandemie überstrapaziert. Auch hier spielt die Bandengewalt eine Rolle: Eine Notfallklinik der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Port-au-Prince wurde geschlossen, nachdem auf sie geschossen worden war. Hinzu kommt eine tiefe politische Krise, die sich nach der Ermordung des Staatspräsidenten Jovenel Moïse durch eine Kommandotruppe in seiner Residenz am 7. Juli verschärft hat.

Internationale Hilfe

Die EU-Kommission kündigte Hilfe in Höhe von zunächst drei Millionen Euro an. Das Geld solle etwa für medizinische Versorgung, Wasser-, Abwasser- und Hygienedienste sowie für Unterkünfte und Schutzmaßnahmen für die am stärksten betroffenen und benachteiligten Gemeinschaften eingesetzt werden.

SOS-Kinderdorf startete indes Nothilfe für Kinder und Familien. Das SOS-Kinderdorf Les Cayes liegt direkt in der Erdbebenregion, von dort aus laufen die Maßnahmen an. Vor allem sollen Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Medikamente und Kleidung verteilt und Notunterkünfte zur Verfügung gestellt werden. "Kinder sollen in Kinderschutzzentren einen sicheren Ort finden und psychologisch betreut werden, um Traumatisierungen entgegenzuwirken. Mittelfristig wird in diesen Nothilfe-Tagesstätten auch provisorischer Unterricht stattfinden können", teilte die Hilfsorganisation mit.

Die Mitarbeiter seien mit lokalen Behörden auch im Einsatz, um im Chaos getrennte Familien wieder zu vereinen. SOS-Kinderdorf ist seit über 35 Jahren in Haiti aktiv und hat schon nach dem Erdbeben 2010 Nothilfe geleistet. Im danach erbauten SOS-Kinderdorf Les Cayes seien alle dort untergebrachten Kinder und Familien wohlauf und sicher.

"Grace" nahm Dienstagfrüh an Stärke zu und zog weiter Richtung Jamaika. Ein tropischer Wirbelsturm gilt ab 119 Kilometern pro Stunde als Hurrikan. (APA, 18.8.2021)