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In den Niederlanden gelten Erdgeschoßwohnungen vielerorts nicht als minderwertig. Das liegt auch daran, dass der Ausblick seltener auf parkende und vorbeifahrende Autos gerichtet ist, sondern auf breite Gehsteige, begrünte Zonen – oder sogar auf Wasserflächen.

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Eine befriedigende Wohnsituation sieht anders aus – das wurde vielen Stadtbewohnern besonders während der Lockdown-Monate schmerzlich bewusst. Das hängt in vielen europäischen Städten auch mit dem radikalen und mitunter brutalen Transformationsprozess der Verdichtung zusammen: An den Stadträndern, an denen bis vor einigen Jahren noch Einfamilienhäuser mit Gärten oder kleine Gewerbebetriebe das Bild bestimmten, werden nun Wohnblöcke aus dem Boden gestampft, sobald ein Stück Bauland auf den Markt gelangt.

Die Gebäude stehen dicht an dicht, um möglichst keinen Quadratmeter des kostbaren Baugrunds ungenutzt zu lassen. Bäume und Grünflächen werden zum seltenen Luxus, der Blick aus den Fenstern dieser Wohnungen reicht oft gerade einmal bis zur Mauer des Nachbarhauses.

Zuzug in die Stadt

Dass es aufgrund des massiven Zuzugs in die Städte nicht anders geht, ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die manisch betriebene Verdichtung ist eine sehr lukrative Sache, wie Aglaée Degros, Leiterin des Instituts für Städtebau der TU Graz, betont: "Viele Wohnungen werden als Investitionsalternative zu weniger sicheren Anlagemöglichkeiten wie dem kaum noch verzinsten Sparbuch gebaut."

Billiger wird der Wohnraum in den Städten dadurch allerdings nicht. "Viele dieser Immobilien stehen leer, weil sie nicht vorrangig für Wohnungssuchende, sondern für Investoren gebaut werden." Die Bedürfnisse potenzieller Bewohner spielen bei diesen Spekulationsobjekten eine untergeordnete Rolle.

Da sich die Kosten fürs Wohnen in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch erhöht haben, können sich viele Menschen eine angemessene Qualität ihres Wohnraums und dessen Umgebung einfach nicht leisten.

Platz für Zwischenräume

Neue Wohnblöcke werden ohne Rücksicht auf die künftigen Bewohner in unmittelbarer Nähe zu vielbefahrenen Straßen gebaut, Bäume und grüne Zwischenräume müssen immer neuen Bauvorhaben Platz machen.

"Zurzeit wird ein Haus nach dem anderen gebaut, jedoch ohne eine allgemeine Strategie", sagt Aglaée Degros, die in ihrem aktuellen Forschungsprojekt den Umgang mit den Räumen zwischen den Gebäuden untersucht. "Die Qualität des öffentlichen Raums wird leider oft vergessen."

So, wie es in den klassischen Stadtzentren Raum für Plätze und Gassen gebe, müsse man auch bei neuen und verdichteten Stadtteilen die Struktur der Umgebung definieren. "Ein durchdachter Plan, was frei bleiben muss, wo verdichtet werden kann und wie die Menschen mit Grün- und Erholungsräumen versorgt und verbunden werden können, wäre dringend erforderlich."

Klimawandel als zentrales Thema

Der Klimawandel müsse dabei ein zentrales Thema sein, bringt er doch für Stadtbewohner besondere Härten mit sich – etwa durch die starke Erhitzung weitgehend versiegelter Flächen im Sommer. Mobilitätskonzepte sollten deshalb an den Klimazielen ausgerichtet werden.

Wie so etwas in der Praxis funktionieren kann, zeigt ein Projekt an der Peripherie von Brüssel, wo ein Netz von Fuß- und Radwegen die Menschen mit den Grünräumen der Gegend verbindet.

"Ein Teil der bebauten Grundstücke musste für diese mit Bäumen, Sträuchern und Wasserflächen gesäumten Wege freigehalten werden", berichtet die gebürtige Belgierin, die an der Entwicklung dieser nachahmenswerten "Zwischenraumstrategie" mitgewirkt hat. "Damit kommen die Einwohner rasch und ohne Auto zu den Parks der Umgebung, gleichzeitig wird landschaftliche Qualität geschaffen."

Planung über die Grundstücksgrenze hinaus

Wie stark aktive Mobilität die Wohnqualität in urbanen Räumen beeinflusst, lässt sich auch in den Niederlanden vielerorts studieren. "Während ich hier in Graz beobachte, dass die Menschen Erdgeschoßwohnungen ohne Gartenanteil meiden, gelten ebenerdige Wohnungen in den Niederlanden durchaus nicht als minderwertiger als jene im ersten, zweiten oder dritten Stock."

Warum? "Weil man statt auf Parkplätze auf breite Gehsteige mit Bäumen blickt, und weil keine Autos, sondern Fahrräder an den Fenstern vorbeifahren." Letztlich gehe es darum, die Gebäude und die Räume dazwischen nicht voneinander getrennt zu betrachten und diese öffentlichen Zwischenräume nicht fraglos dem Autoverkehr zu überlassen.

"Leider befassen sich manche Architekten nur mit dem eigenen Grundstück und kümmern sich nicht um die Umgebung der Häuser", sagt Aglaée Degros. "Wenn etwas Neues gebaut wird, sollte man sich jedoch auch überlegen, was der Mehrwert für die Umgebung ist." Aktuell bewirken Neubauten meist ganz im Gegenteil eine Wertminderung der bereits vorhandenen Gebäude.

Steuern bei Leerstand

Und was ist mit der neuen, umweltbewussteren Architektengeneration? Ist hier nicht schon einiges im Umbruch? "Im Unterricht sieht man, dass sich die Jungen der Problematik sehr bewusst sind und viele von ihnen auch interessante, praktikable Ideen entwickeln", weiß die Städtebauerin aus ihrer Lehrtätigkeit. "In der Praxis erfahren sie dann aber, dass ihr Spielraum durch ‚Sachzwänge‘ extrem begrenzt ist und sie stark von ihren Auftraggebern abhängen."

Um Verbesserungen zu ermöglichen, müsste der Umgang mit den öffentlichen Räumen zwischen den Häusern paradoxerweise deutlich stärker durch Vorgaben geregelt werden, die wiederum die Auftraggeber berücksichtigen müssen.

Außerdem sei Verdichtung grundsätzlich kritisch zu hinterfragen: Geht es dabei um die Schaffung dringend benötigten Wohnraums oder eher um Spekulation? Um Letztere einzudämmen, stehen der Politik durchaus wirksame Instrumente zur Verfügung. "Im kanadischen Vancouver etwa hat die Trudeau-Regierung eine neue Steuer auf leerstehende Wohnimmobilien eingeführt, mit deren Erlös die Schaffung von leistbarem Wohnraum unterstützt werden soll."

Blick geschärft

Corona hat den Blick vieler Menschen auf das Thema Wohnen geschärft und eine verbreitete Sehnsucht nach mehr Grün, Natur und gemeinschaftlichen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten deutlich gemacht. Gleichzeitig nimmt die rasant fortschreitende Verdichtung in den Vorstädten wenig Rücksicht auf diese Bedürfnisse. Die Folge ist eine sinkende Wohnqualität für sehr viele Bürger.

"Man überlässt den Wohnungsmarkt einfach sich selbst, und das ist alles andere als gesund", ist Aglaée Degros überzeugt. Und wenn die verantwortlichen Stadtväter und -mütter dem wilden Markttreiben wohlwollend Tür und Tor öffnen? "Dann braucht es mehr Druck seitens der Bevölkerung." (grido, 22.8.2021)