Wer bei ersten Schwierigkeiten einknicke, brauche das Rennen ums Kanzleramt gar nicht erst antreten, sagt die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Sie ist überzeugt: Viele Menschen wollen jetzt Veränderungen in Deutschland.

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Die Freude bei den Grünen war groß: Als sie im Frühjahr Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin ausriefen, stiegen sie in Umfragen auf Platz eins und verwiesen die Union eine Zeitlang hinter sich. Der Traum von der ersten grünen Kanzlerin Deutschlands schien schon recht nahe. Doch dann geriet die Kampagne ins Stocken, Baerbock musste Fehler einräumen.

Derzeit liegen die Grünen in einer Insa-Umfrage auf Platz drei, sogar hinter der SPD, die lange Zeit abgeschlagen war. Baerbock will dies nun aufholen, sie tourt mit einem Wahlkampfbus durch ganz Deutschland, in diesem gibt sie zwischen den Auftritten auch Interviews. DER STANDARD führte das Gespräch gemeinsam mit "Le Monde" und der "Financial Times".

STANDARD: Frau Baerbock, werden Sie die nächste Bundeskanzlerin Deutschlands?

Baerbock: Darüber entscheiden in einer Demokratie ja zum Glück die Wählerinnen und Wähler. Aber ja, wir treten bei dieser Bundestagswahl an, um die nächste Bundesregierung nicht nur inhaltlich, sondern auch personell an führender Stelle zu gestalten.

STANDARD: Ex-Außenminister Joschka Fischer nannte das Kanzleramt einmal die "Todeszone". Sie kämpfen um den Einzug. Wie haben Sie den Wahlkampf bisher erlebt?

Baerbock: Der Wahlkampf geht jetzt erst so richtig los. Als Grüne und Union im Frühjahr ihre Kanzlerkandidaten verkündet haben, gab es eine Art Vorwahlkampf. Da gab es auch bei uns Startschwierigkeiten, es sind Fehler passiert. Aber die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung beginnt ja erst jetzt.

STANDARD: Sie mussten sich für Ihren Lebenslauf, zu spät gemeldete Nebeneinkünfte und dann für Ihr Buch rechtfertigen. Hatten Sie irgendwann mal das Gefühl: Ich hab keinen Bock mehr?

Baerbock: Es gab Tage, die gut gelaufen sind, und andere, die schlechter verlaufen sind. Mir war von Anfang an klar, dass es Gegenwind geben wird, wenn man als Partei und Person antritt und sagt: Ich will dieses Land erneuern und den Status quo an vielen Stellen verändern. Aber wenn wir dazu nicht den Mut haben, dann verlieren wir als Industrieland weltweit den Anschluss.

STANDARD: Gab es nie den Impuls: Dann soll lieber Robert Habeck die Kanzlerkandidatur übernehmen?

Baerbock: Ich komme ja aus dem Sport (Trampolinspringen, Anm.). Wenn man da schon nach der Vorrunde sagt, man will nicht weiterspielen, dann hätte man gar nicht antreten sollen. So ein Wahlkampf ist ein Marathon. Erst am Ende entscheidet sich, wer gewinnt.

STANDARD: Die Umfragewerte für die Grünen sinken. Verstehen Sie Menschen, die sagen: Wenn eine Partei im Saarland gar keine Wahlliste zustande bringt und die Kanzlerkandidatin so viele Fehler einräumen muss, dann möchte ich den Grünen doch lieber nicht das Kanzleramt anvertrauen?

Baerbock: Wenn Dinge nicht gut laufen, gibt es natürlich kritische Nachfragen. Aber auf der Straße erlebe ich eine große Zahl von Menschen, die sagen: Es geht nicht darum, alles sofort perfekt zu machen oder so lange zu warten, bis es perfekt ist. Sondern wir müssen jetzt handeln. Das Nichtstun der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass wir in Krisen nur noch versuchen, das Ruder herumzureißen, aber auf Krisen nicht vorbereitet sind. Den Wunsch nach Erneuerung spüre ich in allen Ecken des Landes.

STANDARD: Sind die Deutschen bereit für eine grüne Kanzlerin? Oder denken und fühlen zwar viele grün, wählen Ihre Partei aber dann lieber doch nicht, weil dies Einschränkungen bringen könnte?

Baerbock: Unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Sie ist bunter und vielfältiger geworden und hat vor allem Verständnis dafür, wie wichtig Nachhaltigkeit ist. Andererseits gibt es in Deutschland immer einen starken Wunsch nach Stabilität und Sicherheit. Wir müssen daher erklären, warum gerade Veränderung dafür sorgt, dass man das erhält, was einem wichtig ist.

STANDARD: Sie fordern ein Tempolimit von 130 km/h und eine Erhöhung des Benzinpreises von 16 Cent. In Frankreich hat dies die "Gelbwesten-Proteste" ausgelöst. Sehen Sie eine solche Gefahr in Deutschland auch?

Baerbock: Deutschland ist eines der wenigen Länder weltweit, das kein Tempolimit auf der Autobahn hat. Und es ist ja nur eine Maßnahme von vielen, die nötig ist und die vor allem der Sicherheit dient. Zum CO2-Preis: Er ist ja bereits von Union und SPD eingeführt. Das, was wir wollen, ist ein etwas höherer und schnellerer Anstieg, als ihn SPD und Union vorsehen. Ziel des Preises ist, klimafreundliches Verhalten zu belohnen und klimaschädliches Verhalten stärker zu belasten. Anders als in Frankreich schlagen wir außerdem vor, dass die Einnahmen aus dem CO2-Preis wieder an die Menschen zurückgegeben werden. An jede Bürgerin und jeden Bürger, also vom Säugling bis zum Großvater, soll eine Pauschale ausgezahlt werden. Davon profitieren vor allem Familien mit mehreren Kindern und Menschen mit niedrigem Einkommen.

STANDARD: Wie würden die Bürgerinnen und Bürger dieses "Energiegeld" in Höhe von 75 Euro pro Jahr zurückbekommen? Als Direktzahlung oder über die Steuererklärung?

Baerbock: Dazu gibt es verschiedene Wege. In Deutschland hat jeder von Geburt an eine Steuer-Identifikationsnummer. Darüber könnte es laufen. In der Schweiz wird das Geld über die Krankenkasse ausgezahlt. Auch dies wäre eine Möglichkeit.

STANDARD: Der nun veröffentlichte Bericht des Weltklimarats enthält noch schlimmere Vorhersagen über den Zustand unseres Planeten. Müssten Deutschland und Europa noch mehr zur Bewältigung der Krise beitragen?

Baerbock: Ja, wir machen längst nicht das, was wir angesichts der Dramatik der Klimakrise tun müssten. Das ist aber keine neue Erkenntnis, nur leider wurde in den letzten Jahren nicht entsprechend gehandelt. Wir sagen daher seit langem, Deutschland muss schon 2030 aus der Kohle aussteigen, nicht erst – wie von der Bundesregierung beschlossen – 2038, weil uns das nicht auf den 1,5-Grad-Pfad bringt. Deutschland sollte da jetzt vorangehen, zumal das Bundesverfassungsgericht ja auch die Notwendigkeit eines ambitionierten Klimaschutzes unterstrichen hat.

STANDARD: Wie kann Deutschland Druck auf unwillige Staaten ausüben?

Baerbock: Als Erstes sollte Deutschland von der Bremse runter: beim Ausbau der erneuerbaren Energien, beim Umbau der Industrie. Solange es selbst da nicht entschieden vorangeht, wird es auch andere nicht mitreißen. Deutschland und Europa müssen wieder der Motor für Innovationen werden, etwa für eine sozial-ökologische Transformation, für Technologien, die dann auch in anderen Regionen der Welt genutzt werden könnten. Das war ja immer die Stärke Europas.

STANDARD: Berlin und Washington haben den Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 beigelegt. Wird russisches Gas strömen, wenn die Grünen an der Regierung sind?

Baerbock: Ich halte diese Pipeline nicht nur aus Klimaaspekten, sondern vor allen Dingen aus geostrategischen Gründen für fatal, insbesondere für die Ukraine, aber auch mit Blick auf die Geschlossenheit und Souveränität Europas. Und selbst wenn der Bau fertiggestellt wird — es fehlen ja nur noch wenige Kilometer —, bedeutet das nicht, dass automatisch Gas durchgeleitet wird. Die Leitung ist noch nicht vollends genehmigt.

STANDARD: Die Grünen würden dies verweigern?

Baerbock: Wir würden jedenfalls alles daran setzen, dass diese Pipeline Europa nicht weiter spaltet.

STANDARD: Die Genehmigung zu verweigern würde großen Ärger mit Moskau bedeuten. Sie würden das in Kauf nehmen?

Baerbock: Die aktuelle Bundesregierung hat leider die Haltung: Wir machen lieber mal die Augen zu vor der Realität. Das führte dazu, dass wir, mit Blick auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine, keinen Schritt vorangekommen sind. Wir hatten den Giftanschlag in Großbritannien, den Tiergarten-Mord mitten in Berlin, die Vergiftung von Herrn Nawalny. Neben dem Dialog, der immer wichtig ist, muss man Härte zeigen gegenüber dem russischen Regime, wenn es um die europäischen Werte und Interessen geht. Und wenn man deutlich macht, diese Pipeline hat keine politische Unterstützung mehr, dann ist ohnehin fraglich, ob es überhaupt noch europäische Akteure gibt, die an ihr beteiligt sein wollen.

STANDARD: Geht Deutschland nicht hart genug gegen autoritäre Regime vor?

Baerbock: Außenpolitik ist oftmals ein schwieriger Abwägungsprozess. Gerade wenn man den Druck auf Regierungen erhöhen will, muss man natürlich auch die Auswirkungen und Konsequenzen mitberücksichtigen. Und deswegen ist es so wichtig, dass man – wenn Wirtschaftsmacht genutzt wird, um geostrategisch schlimmere Dinge zu verhindern – das nicht halbherzig tut. Mit Blick auf Russland frage ich mich, wieso zahlreiche russische Oligarchen ungehindert in Deutschland und Europa Immobiliengeschäfte machen können, mit denen sie dem Kreml-Kosmos ein gutes Leben sichern. Diese Garanten des Systems Putin müssen doch viel stärker mit personenbezogenen Sanktionen ins Visier genommen werden.

STANDARD: Die Lage in Afghanistan verschlechtert sich täglich, die EU ist besorgt über eine neue Flüchtlingswelle. Muss sich Deutschland darauf einstellen, wieder mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Baerbock: Die Lage in Afghanistan ist dramatisch und komplett unübersichtlich. Niemand weiß, wie sie sich von Stunde zu Stunde verändert. Jetzt muss es erstmal gelingen, Leben zu retten – das der Botschaftsangehörigen, der Menschen, die als Ortskräfte für uns alles riskiert haben, auch in den EU-Missionen. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, von internationalen Medien, Frauen- und Menschenrechtlerinnen sind in großer Gefahr. Sie zu schützen ist jetzt die drängendste Aufgabe.

STANDARD: Das gemeinsame Vorgehen hat schon 2015 nicht geklappt. Warum sollte es jetzt funktionieren?

Baerbock: Vermutlich können überhaupt nur noch wenige Tage Menschen aus Kabul ausgeflogen werden. Es ist also höchste Eile geboten. Zeit für taktische Spielchen gibt es nicht. Diejenigen, für die Tatenlosigkeit keine Option ist, sollten sich zusammentun. Kanada ist schon dabei, die USA auch. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Bundesrepublik ein eigenes Sonderkontingent auflegt. Deutschland könnte aus den genannten besonders schutzbedürftigen Gruppen Menschen in einer Kontingentlösung aufnehmen. Es ist zu hoffen, dass dann auch weitere Staaten folgen. Wenn die EU schnell zu einer gemeinsamen Verteilung kommt, wäre das natürlich umso besser.

STANDARD: Angela Merkel tritt demnächst nach 16 Jahren ab. Was imponiert Ihnen an ihr?

Baerbock: Ich habe großen Respekt vor der Art und Weise, wie sie ihr Amt ausgefüllt hat – menschlich, unprätentiös und immer mit Blick auf die Fakten und Notwendigkeiten. Aber sie hatte eine Partei hinter sich, die nicht bereit ist, die großen Herausforderungen unserer Zeit wirklich vorausschauend anzugehen.

STANDARD: In Österreich regieren die Grünen mit. Sind diese ein Vorbild für Sie?

Baerbock: Man kann die Situation nicht vergleichen. In Österreich war die FPÖ an der Macht. Da haben die Grünen gesagt, wir gehen im Zweifel selbst in die Regierung, um eine neue Beteiligung der FPÖ zu verhindern. In Deutschland würden wir aus einer ganz anderen Position heraus in eine Regierung eintreten. (Birgit Baumann, 18.8.2021)