Krisen sind unweigerlich Schlüsselmomente, und auf einen solchen steuert gerade einer der Kernwerte unseres Daseins vor unser aller Augen zu, nämlich unsere Menschlichkeit. Wir sind wieder untätige Zeugen eines unfassbaren Szenarios, von dem wir wussten, dass es das einzig realistische war, während wir trotzdem nach wie vor mit kindlicher Naivität versuchen, die Geschehnisse zu rationalisieren. Ein Schauspiel, das aus einer Mischung aus unfähiger Ratlosigkeit und fassungsloser Schockstarre darüber, wie leicht jahrzehntelanger Einsatz in Wochen nichtig gemacht wird, zu einer schändlichen Farce wird.

Die Bilder aus Afghanistan gehen um die Welt. Die Taliban haben 20 Jahre nach ihrer Absetzung durch die von den USA geführte Militäroperation, die eigentlich ein anderes Hauptziel verfolgte, die Macht zurückerobert. Der Konsequenzen dieser unausweichlichen Entwicklung waren sich alle bewusst. Dennoch verfolgen viele genauso wie ich die Entscheidungen der Länder, die jahrzehntelang die Wichtigkeit der Entwicklung Afghanistans unterstrichen haben, mit einer Mischung aus apathischer Ungläubigkeit, unkontrollierbarer Wut und tiefem Schmerz. Diese wiederholten Bekenntnisse verblassen zu Heuchelei, die sich hinter einem Narrativ versteckt, das die eigentlichen Leidtragenden dieser Katastrophe, die Bevölkerung, zu Figuren in einem Schachspiel der Politik degradiert. Mit Blick auf das große Ganze ist ein "Bauernopfer" wohl manchmal notwendig.

Es handelt sich um Menschen, deren Schicksal jahrelang als Argument für den Militäreinsatz diente, von dem viele Soldatinnen und Soldaten nicht mehr nach Hause kamen. Dieselben Menschen, für die Milliarden an Entwicklungsgeldern investiert wurden und für die humanitäre Arbeitskräfte ihr Leben lassen mussten. Wie kommt es, dass von einem Tag auf den anderen genau dieselben Menschen plötzlich nichts mehr wert sind? Ja, viel mehr noch, dass einige Länder nach wie vor Menschen zurück in ein Land schicken, in dem sie im günstigsten Fall ein brutaler Krieg und im schlimmsten der Tod erwartet? Wo bleibt die Menschlichkeit in diesem Spiel?

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Zivilisten versuchen am Flughafen in Kabul, aus dem Land zu flüchten.
Foto: AP Photo/Shekib Rahmani

Komplexes Land, komplexes System

Afghanistan besticht durch seine Einzigartigkeit und verzaubert durch seine Ambivalenz von Einfachheit und Komplexität. Von unbeschreiblicher landschaftlicher Schönheit umgeben, zeichnet sich die Bevölkerung durch ein extrem vielschichtiges, wertegesteuertes und faszinierendes gesellschaftliches System aus, an welchem man als Fremder selbst mit überdurchschnittlichem Interesse bestenfalls an der Oberfläche kratzen kann. Die Wertehierarchie ist eine andere als in vielen westlichen Ländern, und trotz aller Bemühungen ist es den internationalen Akteuren nie gelungen, dieses System in einem Umfang zu verstehen, welcher zu wirklichen Änderungen und nachhaltigem Fortschritt im Land hätte führen können.

Im Rahmen meiner humanitären Arbeit durfte ich das Land vor mehr als zehn Jahren für einige Zeit mein Zuhause nennen, und ich wurde direkt Zeuge von vielen Versäumnissen und dem fehlenden Verständnis für die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung. Die Intervention wurde durch egoistische Ambitionen bestimmt, und das ambitionierte Ziel, die Gesellschaft zu ändern, wurden in aller Offenheit ungehindert sabotiert. Die Kräfte, die aktuell wieder die Macht übernommen haben, waren nie verschwunden. Sie waren immer präsent, wenn auch nicht in der Stärke, die sie nun wieder zeigen. Sie haben mit jener Geduld gewartet, die Afghanistan schon in der Vergangenheit bewiesen hatte, wenn andere Länder versuchten, dieses raue Land und seine widerspenstige Bevölkerung zu kontrollieren. Alle, die der Meinung sind, dass die letzten zwei Jahrzehnte nicht als Belagerung betrachtet wurden, haben nicht zugehört. Die Warnungen waren deutlich und wurden oft genug wiederholt. Dennoch wurden die Entscheidungen beinahe ausschließlich aufgrund von politischen und kaum menschlichen Perspektiven getroffen.

Was wird aus der Menschlichkeit?

Die Menschen, die nach einer Erneuerung und nach Fortschritt streben, der ihnen zwei Jahrzehnte versprochen wurde, tragen nun wieder die Konsequenzen der internationalen machtpolitischen Spiele. Vielmehr noch wird ihnen von einigen in feiger Unverfrorenheit die Schuld dafür zugeschoben, dass die Taliban wieder an die Macht kommen, da sie sich nicht wehren würden.

Ich denke an meine Freunde, an die vielen beeindruckenden und faszinierenden Menschen, die ich kennenlernen durfte und die mich mit Gastfreundschaft verwöhnten. An die jungen Menschen, denen eine Zukunft voller Möglichkeiten versprochen wurde und die nun zusehen müssen, wie das Kartenhaus zusammenstürzt. Die Mädchen und Frauen, die unermüdlich an der eigenen Befreiung arbeiteten, denen Hoffnung gemacht wurde und die nun wieder Gefangene in ihren eigenen Häusern werden. Kinder, denen die Welt als Bühne dienen sollte, werden wieder in ein radikales System sozialisiert, das sich so selbst aufrechterhält.

Die Welt sieht wieder einmal zu und schiebt die Verantwortung für eine humanitäre Katastrophe von sich, die sie mitverursacht hat. Dabei übersieht man, dass nicht nur das Schicksal eines Landes auf dem Spiel steht, sondern es um eine viel größere Krise geht, in der sich die Frage aufdrängt: Was wird aus der Menschlichkeit? (Thomas Lahnthaler, 19.8.2021)