Bei der Sondersitzung des Unterhauses zur aktuellen Lage in Afghanistan haben am Mittwoch in London Abgeordnete aller Parteien die Regierung von Premier Boris Johnson scharf kritisiert. Die Machtübernahme der Taliban stelle einen "schweren Rückschlag für die britische Außenpolitik" dar, sagte Johnsons konservative Vorgängerin Theresa May. Der Westen habe bewiesen, dass es ihm an strategischer Geduld fehlt, analysierte der konservative Chef des auswärtigen Ausschusses, Tom Tugendhat: "Wir bekommen eine harsche Lektion erteilt."

Gegenwind von der Oppositionsbank ist Boris Johnson gewöhnt – am Mittwoch kam dieser auch aus dem eigenen Lager.
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Wie groß der Unmut sogar auf den Bänken der eigenen Fraktion ist, muss dem Regierungschef bereits nach wenigen Minuten klar geworden sein. Immer wieder wurde Johnsons Rede von feindseligen Zwischenfragen unterbrochen. Konservative prangerten das "katastrophale Versagen unserer Geheimdienste" an, Labour-Abgeordnete fragten entgeistert, warum die Regierung in diesem Jahr lediglich 5.000 Flüchtlinge aufnehmen wolle, wenn doch Zehntausende für britische Organisationen tätig gewesen seien.

Lieber Ferien als Politik machen

Mit steinerner Miene musste der neben Johnson sitzende Außenminister Dominic Raab ätzenden Spott über seine zuletzt urlaubsbedingte Abwesenheit über sich ergehen lassen. Der Chefdiplomat habe nicht einmal mit seinen Botschaftern in der Region Kontakt aufgenommen, höhnte Labour-Oppositionsführer Keir Starmer: "Vom Strand aus kann man das nötige Vorgehen nicht koordinieren."

Während Armeeveteranen beider Seiten dem Premier "Wut, Trauer und Zorn" (Tugendhat) entgegenschleuderten, zerlegte der Kronanwalt Starmer mit kühler Gelassenheit das Regierungshandeln. Johnson habe "Gleichgültigkeit" (complacency) an den Tag gelegt – gleich achtmal schlug der Oppositionsführer seinem Kontrahenten diese Vokabel um die Ohren. In seinen zwei Amtsjahren habe er Afghanistan kein einziges Mal besucht, im vergangenen Jahr die Entwicklungshilfe für das bettelarme Land am Hindukusch um drei Viertel zusammengestrichen. "Und als die Taliban am Wochenende vor den Toren Kabuls standen, verschwand der Premier in den Urlaub."

Tatsächlich hatte Johnson seine Ferien angetreten, nach 24 Stunden aber wieder abgebrochen. Der Regierungschef habe "keinen Plan: So sehen die Kosten nachlässiger Führung aus", resümierte Starmer.

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Proteste gegen die britische Regierung in Sachen Afghanistan vor dem Parlament.
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Während sich Starmer und Johnson vornehm mit Kritik am US-Präsidenten zurückhielten, kritisierten viele Abgeordnete Joe Bidens kühle Rede vom Montagabend. Bidens Kritik an der afghanischen Armee (ANA) sei beschämend gewesen, sagte der zerknirschte Ex-Offizier Tugendhat mit kaum gezügeltem Zorn: "Wer nie für sein Land gekämpft hat, sollte mit Kritik vorsichtig sein."

Auch Johnson lobte die "Tapferkeit und Opferbereitschaft" der ANA und erinnerte an deren 69.000 Gefallene. Nach der US-Entscheidung, sich zurückzuziehen, habe man aber der Wahrheit ins Auge sehen müssen: Ohne die Unterstützung des bei weitem größten Nato-Partners sei ein weiteres Engagement nicht infrage gekommen. "Es gab dafür auch keinen Appetit bei unseren Verbündeten."

Ruf nach Koordination

Johnson will nun bei einem virtuellen G7-Treffen der führenden westlichen Industrienationen sowie im UN-Sicherheitsrat darauf drängen, dass der Westen seine Politik gegenüber den Taliban koordiniert. Dazu zähle auch, die Anerkennung der neuen Regierung von der Einhaltung bestimmter Standards, darunter Frauenrechte, abhängig zu machen.

Zur Evakuierung von britischen Staatsbürgern und jenen Afghanen, deren Hilfe für britische Organisationen und die Armee unabdingbar war, sind 800 Fallschirmjäger im Einsatz. Bisher seien 306 Briten und 2.052 Afghanen ausgeflogen worden, berichtete Johnson. Weitere 2.000 Afghanen haben das begehrte Visum zur Einreise ins Königreich erhalten. (Sebastian Borger, 18.8.2021)