Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, schreibt in seinem Gastkommentar über den Universitätsbetrieb ab Herbst. Er fordert ein Ende der Distanzlehre, Universitäten bräuchten Präsenz.

Anfang März 2020 sind die Universitäten ganz oder größtenteils in den Distanzmodus gewechselt. Drei Semester – das bedeutet die Hälfte eines Bachelorstudiums oder drei Viertel eines Masterstudiums. Die Logik digitaler Kommunikation erschwert, behindert oder verhindert Mehrdimensionalität, Zwischentöne, Ambiguität und den Umgang mit Ungewissheit und Komplexität.

Wir leben in einer Welt, die gekennzeichnet ist von Veränderung, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit. "Liquid Society" nannte der Philosoph Zygmunt Bauman das. An unseren Bildungsinstitutionen, wo die Menschen auf das Leben in dieser Liquid Society vorbereitet werden sollen, da herrscht weitgehend eine Kultur der Eindeutigkeit und Messbarkeit: Ja oder nein. Wahr oder falsch. Richtig oder unrichtig.

Weiter auf Distanz oder doch direkt im Hörsaal? Wie es im Herbst an den Universitäten weitergeht, hängt letztlich auch davon ab, wie sich die Corona-Pandemie entwickeln wird.
Foto: APA / Hans Punz

Das Bild von der Pandemie als gesellschaftspolitisches Brennglas, das bildungspolitische Problemzonen deutlich macht, gilt auch für die Universitäten. Abwägen, relativieren, differenzieren, hinterfragen, Verbindungen herstellen zwischen unterschiedlichen Wissens- und Handlungsfeldern: Diese Art von Bildung hatte schon vor der Covid-19-Pandemie an vielen Universitäten keinen zentralen Platz. Begründung: "Massenuniversität". Eine Universität im digitalen Distanzmodus kann das noch weniger leisten als eine im Präsenzmodus unter den Bedingungen einer unterfinanzierten "Massenuniversität".

Sinnvoll und effektiv

Der pandemiebedingt erzwungene Distanzmodus verhindert aber auch dort einen universitären Lehrbetrieb, der diesen Namen verdient, wo er noch möglich wäre. Das alles spricht übrigens nicht gegen die sogenannte Massenuniversität, sondern nur gegen deren Unterfinanzierung. Wenn in allen relevanten Studien und Kommentaren davon gesprochen wird, dass die (nicht nur digitale!) Transformation von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft mehr Bildung erfordert (wenn auch nicht more of the same), dann darf das Wort "Massenuniversität" nicht als Schimpfwort gebraucht werden. Dann ist es Aufgabe der Politik, jene Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen universitäre Bildung auch für die gesellschaftlich und ökonomisch notwendige höhere Zahl von Studierenden sinnvoll und effektiv möglich ist.

Die Philosophin Anne Applebaum schreibt in ihrem Buch Die Verlockung des Autoritären, dass der politische Autoritarismus Menschen anspricht, die keine Komplexität aushalten. Eine demokratische Gesellschaft, die über zu wenig Ambiguitätstoleranz verfügt, deren Bildungssystem den Umgang mit Ungewissheit und Mehrdeutigkeit nicht zum zentralen Bildungsziel macht, zerstört ihre Grundfesten und ihren Bestand.

Fatale Auswirkungen

Die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik können sich ohne allzu viel Fantasie ausmalen, welche Auswirkungen es auf die Zukunft unserer Wirtschaft und auf die Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft hat, wenn die Absolventinnen und Absolventen von Universitäten in digitalen Fernlehranstalten sozialisiert wurden, wo Diskurs- und damit auch Kompromissfähigkeit, komplexe und nonlineare Argumentationsstrategien, der Umgang mit Mehrdeutigkeit und Ungewissheit systembedingt keinen Platz fanden.

Die Wirtschaftsministerin hat dieser Tage öffentlich betont, dass ein neuerlicher Lockdown im Herbst für die Wirtschaft eine Katastrophe wäre. Die Fortsetzung des universitären Lockdowns in Form des Distanzbetriebs wäre bildungs- und gesellschaftspolitisch mindestens so katastrophal, auch wenn man die fatalen Auswirkungen erst in einigen Jahren voll erkennen würde.

Die Universitäten müssen mit allen dafür notwendigen Maßnahmen im kommenden Herbst wieder in die Lage versetzt werden, in den Präsenzmodus zu wechseln. Dazu bedarf es der organisatorischen und finanziellen Unterstützung durch die Politik:

  • die Weiterführung der Gratistestmöglichkeiten in den Universitätsstädten,
  • Impfaktionen für die Studierenden und das Personal der Universitäten ab Ende September und
  • finanzielle Unterstützung der Universitäten für die Kosten der Umsetzung und Kontrolle von universitären Covid-19-Präventionskonzepten wie Drei-G-Nachweisen und Hygienemaßnahmen.

Die Universität für angewandte Kunst Wien hat diesen Feldversuch für die Umwandlung der Universitäten in digitale Fernlehreinrichtungen nach zwei Semestern im Februar 2021 abgebrochen. Im Sommersemester 2021 hatten alle Studierenden und Lehrenden, die einen negativen Covid-Test oder eine Covid-Impfung nachweisen konnten, wieder Zutritt zu allen Gebäuden der Angewandten.

Großer Aufwand

Wer nicht alles unternimmt, um universitäre Lehre und Forschung so zu ermöglichen, wie es dem Wesen der Universität entspricht, nimmt die nachhaltige Beschädigung der Institution Universität in Kauf. Ja, der Aufwand ist groß – aber er ist notwendig, genauso notwendig wie die unter dem Motto "Koste es, was es wolle!" betriebene Stabilisierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes.

Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft brauchen funktionierende Universitäten, die eine immer größere Zahl von Menschen auf die Herausforderungen des Zeitalters der großen Transformationen vorbereiten. Universitäten im Distanzmodus können das nicht. Wenn das nicht gelingt, dann werden in zehn bis 15 Jahren auch die aktuellen Anstrengungen zur Rettung der Wirtschaft als verlorener Aufwand zu qualifizieren sein. (Gerald Bast, 19.8.2021)