Im Gabion-Fußballstadion in Les Cayes wurden provisorische Unterkünfte wie diese hier für jene geschaffen, die ihr Zuhause verloren haben. In vier Provinzen Haitis wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Foto: EPA / Orlando Barria

Geht es nach Betroffenen des Erdbebens vom Wochenende, so ist von der Regierung Haitis nichts zu sehen und nichts zu hören. "Niemand von ihnen ist hergekommen. Nichts ist getan worden", sagte Pastor Roosevelt Milford der Nachrichtenagentur Reuters. Auch die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH kritisierte den Umgang der Regierung mit der Katastrophe als "totales Chaos". Die Opfer seien "sich völlig selbst überlassen".

Dass die Menschen im Südwesten des Landes sauer sind, kann auch Alessandra Giudiceandrea bestätigen, Leiterin der Haiti-Mission von Ärzte ohne Grenzen (MSF). "Zwei große Straßen sind blockiert, was die Hilfe erschwert: eine durch die Folgen des Erdbebens, die andere durch einen wütenden Mob, der sich über die fehlende Hilfe der Regierung beschwert", sagte sie dem STANDARD am Telefon.

Krankenhaus beschädigt

Sie hofft, dass bald Hilfe von den Behörden kommt. Bis dahin ist MSF in den drei betroffenen Departements Grand’Anse, Nippes und Sud mehr oder weniger auf sich allein gestellt. In letzterer Provinz hatte die Hilfsorganisation bereits ein Projekt laufen, deshalb konnte sie dort gleich direkt nach dem Beben helfen. "In Port-à-Piment wurde das Krankenhaus beschädigt, wir mussten es evakuieren und alle Patienten in Sicherheit bringen."

Giudiceandrea ist seit einem Jahr auf Haiti stationiert, aber schon nach dem verheerenden Erdbeben 2010 war sie auf der Karibikinsel im Einsatz. Derzeit, sagt sie, geht es vor allem darum, medizinisches Personal und Equipment dorthin zu bringen, wo es benötigt wird, denn neben den zwei großen Straßen wurden auch viele kleinere Wege zerstört und beschädigt. Mittlerweile ist deshalb auch ein Hubschrauber im Einsatz. Außerdem, so die MSF-Leiterin, werde nun versucht, die entlegenen Bereiche zu erreichen, um ein genaueres Bild vom Ausmaß der Schäden zu erhalten.

Unterkünfte weggeschwemmt

Hinzu kommt das Tiefdruckgebiet Grace, das in der betroffenen Region zusätzlich noch starke Regenfälle verursacht hat. In einer Notunterkunft in Les Cayes war auf Fotos zu sehen, wie das Wasser Menschen bis zu den Knöcheln reichte. Auch wurden viele provisorische Unterkünfte weggeschwemmt.

Und als wäre das alles nicht genug, erschweren kriminelle Banden die notwendige Hilfe. "Die Hauptstraße von der Hauptstadt Port-au-Prince geht durch das Stadtviertel Martissant, und dort gibt es bereits seit zwei Monaten Bandenkämpfe", sagt Giudiceandrea. Deshalb hatte MSF Ende Juni dort ein Projekt stoppen müssen. Derzeit herrscht wegen der Naturkatastrophe ein Waffenstillstand. Regierung und UN-Vertreter haben ausgehandelt, dass zwei Hilfskonvois die Straße befahren dürfen. Am Mittwoch teilte die Regierung mit, dass mehr als zehn Lastwägen mit Hilfsgütern unterwegs wären. "Mal schauen, wie lange der Frieden hält", sagt Giudiceandrea.

Unterdessen stieg die Zahl der Toten laut Zivilschutzbehörde auf 2.189. Mindestens 332 Personen gelten als vermisst. Der Uno zufolge sind insgesamt 1,2 Millionen Menschen betroffen, mehr als 60.000 Häuser wurden zerstört und weitere 76.000 beschädigt.

Erinnerungen an 2010

All das erinnert an das Erdbeben im Jänner 2010, als 220.000 Menschen ums Leben gekommen sind und mehr als eine Million Menschen obdachlos wurden. Zwar gab es viel Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft für den Wiederaufbau des Landes. Korruption, Verschwendung und Planungsfehler führten jedoch dazu, dass sich das Land bis heute nicht komplett davon erholt hat.

Hinzu kommt aktuell eine politische Krise, die sich nach der Ermordung des Staatspräsidenten Jovenel Moïse durch eine Kommandotruppe am 7. Juli verschärft hat. (Kim Son Hoang, 18.8.2021)