Der Inhalt des Duden ist auch eine Geschichte unserer Gesellschaft. 2004 nahm das Wörterbuch etwa das Wort "googeln" auf, 2017 kamen "Filterblase" und "Selfie" hinzu, 2020 dann unter anderem "Flugscham", "Gendersternchen", "Hatespeech", "Insektensterben", "Klimakrise" und "Brexiteer".

Unter Sprachwissenschafterinnen, Politikern, aber auch in der öffentlichen Debatte lösen die Begriffe regelmäßig heftige Debatten aus. Es ist gewissermaßen ein Kampf zwischen Sprachbewahrern und Spracherneuerern, Konservativen, Liberalen, Progressiven und Aktivistinnen und Aktivisten um nichts weniger als die Deutungshoheit in der deutschen Sprache.

Neue Realitäten

Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt, die nach nur wenigen Monaten ihre Spuren in den Wörterbüchern hinterlassen hat. "Lockdown", "Social Distancing", "Ansteckungskette" und "Herdenimmunität" sind bereits fixer Bestandteil des Duden und werden es wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren bleiben. Gleichzeitig spricht die Politik schon vom "Brückenlockdown" oder möglicherweise bald von der "Winterruhe".

"Krisen verändern unsere Sprache", sagt Oksana Havryliv, Sprachenwissenschafterin an der Universität Wien, im STANDARD-Podcast. Denn durch Krisen entstehe die Notwendigkeit, eine neue Realität zu benennen.

Gleichzeitig bilde Sprache aber nicht nur das ab, was gerade passiert, sondern sie gestalte mit, wie wir die Realität wahrnehmen und wie wir denken. Mithilfe von Begriffen wie "Lockdown", "Homeoffice" oder "Social Distancing" werde versucht, die Realität erträglicher zu machen. "Lockdown klingt eben angenehmer als der deutsche Begriff Ausgangssperre", sagt Havryliv.

Humor in der Krise

Auch der Humor komme besonders in Krisenzeiten zum Vorschein. Das schaffe neue, kreative Wortkreationen wie beispielsweise "Coronials" für jene Babys, die während der Pandemie geboren werden, bis hin zum "Faßmann-Abstand", der auf die Größe des Bildungsministers anspielt. "Humor ist wie ein Schutzmantel", sagt Havryliv. "Er hilft uns, die Realität abzuwerten, um uns gewissermaßen darüber zu erheben." Ebenso spiele die Kreativität durch die Kreuzung von zwei Wörtern, wie beispielsweise "Covidioten" für Corona-Leugner, oder "Alleinachten" für jene Menschen, die Weihnachten allein verbringen mussten, eine Rolle in Krisen. Die Distanz im realen Leben werde durch die Verschmelzung der Wörter in der Sprache kompensiert, sagt Havryliv.

Klar ist für viele in der Sprachwissenschaft aber auch: In der Politik können diese Begriffe einem bestimmten Kalkül folgen, uns mitunter auch manipulieren. So argumentierte der US-amerikanische Linguist George Lakoff beispielsweise, dass Metaphern in der Lage seien, Wahlen zu entscheiden. Vor allem den Republikanern gelinge es in den USA mithilfe von Sprachbildern und Emotionen viel besser als den Demokraten, ihre Ideen zu vermitteln. So hätten die konstanten Wiederholungen des Ex-US-Präsidenten Donald Trump dazu geführt, dass auch Zuhörerinnen und Zuhörer den Redestil des Präsidenten annahmen und ihn damit bekräftigten, so Lakoff.

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Dies könne die Wahrnehmung von Menschen zu bestimmten Themen weit in die Zukunft hinein beeinflussen. Anstatt nur die Argumentation des anderen zu verneinen, sollten wir "das Gegenteil positiv formulieren", argumentiert Lakoff.

Viele Anglizismen

Auch Havryliv rät dazu, bestimmte Begriffe, die uns im Alltag begegnen, zu hinterfragen, etwa die Vielzahl an Anglizismen. "Es gibt in einigen Cafés beispielsweise einen Käsekuchen, wie es in Deutschland heißt, oder, wie in Österreich, einen Topfenkuchen zu kaufen, der in anderen wiederum Cheesecake heißt und dort teurer ist."

Auch bei Stellenangeboten würden Anglizismen dazu dienen, die ausgeschriebene Position aufzuwerten, so Havryliv. Das Problem: Vor allem ältere Bevölkerungsgruppen, die weniger gut Englisch sprechen, würden durch diese Sprache oft ausgeschlossen werden.

Stattdessen sollten wir versuchen, manche Begriffe in der Muttersprache zu benennen, da wir uns so mit der Sache oder dem Thema eher vertraut machen und diese infolgedessen besser verstehen können, sagt Havryliv.

Nicht zuletzt trage auch das Gendern dazu bei, bestimmte Gruppen in der Realität sichtbarer zu machen. Die Debatte habe mitunter bereits zu neuen Berufsbezeichnungen geführt. "Aus Putzfrau wurde Raumpflegerin, Reinigungskraft und scherzhaft auch Bodenkosmetikerin", sagt Havryliv. Das Problem sei jedoch nicht nur das Wort selbst, sondern auch die Konnotation dazu, so Havryliv. Und solange sich an der generellen Wertschätzung von bestimmten Berufen und Menschen nichts ändere, würden auch neue Begriffe und Wörter wenig nützen. (Jakob Pallinger, 20.8.2021)