Das Immunsystem der Kleinen muss sich erst aufbauen. Gewisse Infekte sind daher wichtig. Aber manche Krankheiten schwächen die Körperabwehr zu stark.

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So manche Eltern haben es beobachtet: Der Nachwuchs ist mit Beginn der Corona-Pandemie auf einmal nicht mehr krank geworden. Keine Verkühlungen, keine grippalen Infekte, auch keine typischen Kinderkrankheiten. Bei manchen hat sich das bis heute fortgesetzt. Doch was sehr angenehm für die Eltern klingt – immerhin kann ein krankes Kind wirklich fordernd sein –, wirkt sich nicht unbedingt förderlich auf das kindliche Immunsystem aus.

Das bestätigt auch Monika Resch, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin und Leiterin der Neugeborenenstation an der Privatklinik Goldenes Kreuz in Wien: "Ab Beginn der Pandemie, mit dem ersten Lockdown, waren die Kleinen schlicht weniger krank, einerseits durch die Isolation in der Familie und andererseits durch die stark gestiegenen hygienischen Maßnahmen in der Bevölkerung wie vermehrtes Händewaschen, Masketragen und Abstandhalten. Wir haben das auch in der Kinderarztpraxis intensiv gemerkt. Über viele Monate hatten wir nur sehr vereinzelt wirklich kranke Kinder zu behandeln. Der Großteil waren Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen und Impfungen laut Impfplan."

Das hat sich mit der Öffnung von Schulen und Kindergärten schlagartig wieder geändert, plötzlich waren wirklich viele Kinder krank. Mittlerweile hat es sich auf ein normales Niveau eingependelt. Doch was bedeutet das für das Immunsystem der Kinder? Resch erklärt: "Was wir beobachten konnten, ist ein Spiegel dessen, was mit dem Immunsystem der Kinder passiert ist. Durch Isolation und strenge Hygienerichtlinien kam es zu einer, vermutlich unnatürlichen, Schonung des kindlichen Immunsystems. Es konnte in dieser Zeit nicht wie sonst lernen, mit vielen verschiedenen Viren, mit denen es üblicherweise sehr oft und rasch in Kontakt kommt, umzugehen."

Immunsystem in Entwicklung

Durch das Fehlen dieser Challenge blieben die Kinder zwar gesund, ihr Immunsystem konnte sich aber auch nicht in dem Maße entwickeln, wie es im normalen Zusammenleben üblich ist. Virale Infekte sind aber wichtig, denn durch den erstmaligen Kontakt mit einem Virus wird der Organismus zunächst durch neuartiges Antigenmaterial überrascht. Mit der Erkrankung entwickeln sich die üblichen Abwehrmechanismen wie Fieber, Müdigkeit, Abgeschlagenheit. Verschiedene für das jeweilige Virus typische Krankheitsmerkmale wie Erkältungssymptome, Erbrechen oder Durchfall entstehen.

Während dieser Phase lernt der Organismus aber auch, mit dem neuen Antigen umzugehen, entwickelt spezifische Antikörper und baut seine zelluläre Abwehr so auf, dass bei einem neuerlichen Kontakt mit diesem Virus der Körper gewappnet ist. Die Krankheit entwickelt sich entweder in einer abgeschwächten Form, oder Symptome bleiben überhaupt aus. Resch betont: "Je mehr Kontakt man mit unterschiedlichen Viren hat, desto stärker wird das Immunsystem, und umso gesünder wird in der Folge der Mensch. Eltern beobachten das häufig, wenn die Kindergartenzeit beginnt. Das erste Jahr wird oft als wahnsinnig anstrengend erlebt, weil die Kleinen alle Infekte aufschnappen. Im zweiten Jahr sind es aber schon viel weniger Krankheitstage."

Unterschiedlich gefährliche Viren

Das heißt aber nicht, dass man dem Immunsystem jedes Virus unbedingt präsentieren sollte. Erkältungsviren sind tendenziell harmlos, andere Erkrankungen sind das ganz und gar nicht. Ein wirklich nicht harmloses Virus ist etwa das Masernvirus. Resch betont: "Dieses kann eine Menge an Komplikationen nach sich ziehen, die ganz klar über das normale Ausmaß einer viralen Erkrankung hinausgehen. Es kann Meningitis oder Enzephalitis hervorrufen, also eine Schädigung des Zentralnervensystems. Es kann auch zu Pneumonie oder Mittelohrentzündung führen, die den Organismus stark schwächen können und manchmal auch nicht mehr gänzlich ausheilen."

Zudem ist wissenschaftlich belegt, dass das Masernvirus das Immunsystem langfristig erheblich schwächt. Das heißt, in den auf die Krankheit folgenden Jahren gibt es ein sehr hohes Risiko für schwerwiegende Infektionskrankheiten. Denn es reduziert die Gedächtniszellen, also jene Zellen, die gegen ein Antigen sensibilisiert sind und bei erneutem Kontakt für eine schnelle Abwehrreaktion sorgen. Und es werden auch bereits gebildete Antikörper durch das Masernvirus zerstört: "Das heißt, man muss davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil der Arbeit, die das Immunsystem für den Aufbau einer effizienten Körperabwehr geleistet hat, durch eine Maserninfektion wieder zunichtegemacht wird."

Corona als langfristiges Problem?

Wie das genau bei Sars-CoV-2 aussieht, kann man noch nicht sagen, es fehlen logischerweise die Langzeitdaten. Erste Erkenntnisse helfen aber, die Gefährlichkeit des Virus für Kinder einzuordnen. Eine britische Studie mit Daten von 1.734 infizierten Kindern im Alter von fünf bis 17 Jahren, die im Fachjournal "The Lancet" erschienen ist, zeigt etwa, dass immerhin 4,4 Prozent der Kinder Symptome hatten, die länger als 28 Tage dauerten. Bei 1,8 Prozent dauerten sie sogar länger als 56 Tage, 2,1 Prozent der Kinder mit Covid mussten ins Krankenhaus.

Der deutsche Immunologe Carsten Watzl von der TU Dortmund schätzt das via Twitter wie folgt ein: "Die meisten Kinder haben keine längeren Probleme, aber bei ein bis zwei Prozent ist das der Fall. Man kann also nicht sagen, dass Covid für Kinder völlig harmlos ist."

Dazu kommt ein neuartiges Krankheitsbild, das Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS). Das ist eine überschießende Immunreaktion, die typischerweise einige Wochen nach einer Sars-CoV-2-Infektion auftritt. Die Kinder haben dann Fieber, oft auch Bauchweh, Entzündungen können die Organe angreifen. Die Schwere der Erkrankung ist dafür nicht ausschlaggebend, genügend Kinder sind betroffen, die davor einen symptomlosen Krankheitsverlauf hatten. Leider gibt es keine ganz genauen Zahlen für Österreich, aber Experten schätzen, dass im Schnitt ein Kind von tausend erkrankten betroffen ist.

Wichtige Impfungen

Eine Impfung gegen Corona für Kinder unter zwölf wird es wohl frühestens im Jahr 2022 geben. Sobald sie zugelassen ist, werden Kinderärzte wissbegierige Eltern umfassend darüber aufklären. Bis dahin kann Resch Eltern gegenüber nur immer wieder bekräftigen, die Impfungen, die im österreichischen Impfprogramm empfohlen werden, auch wirklich durchführen zu lassen: "Nur so kann man sicherstellen, dass jene Erkrankungen, mit denen der Körper oft nur schlecht zurechtkommt, nicht durchgemacht werden müssen. Manche dieser Erkrankungen können ja auch heute noch zum Tod führen, wie zum Beispiel Meningokokken B. Masern oder FSME können zu erheblichen, irreversiblen Schäden führen." Eine Impfung präsentiert dem Immunsystem jene Antikörper, die es braucht, um diese Krankheiten gefahrlos zu überwinden.

Ein gutes und fittes Immunsystem bekommen Kinder also durch die Kombination aus empfohlenen Impfungen und dem Durchmachen verschiedener viraler Erkrankungen, die die Bildung wichtiger Antikörper anregen. Und Resch betont: "Nicht zu impfen oder, im anderen Extremfall, sein Kind durch übertriebene Hygiene und Vorsichtsmaßnahmen vor jeglichem Infekt schützen zu wollen sind definitiv keine Lösungen." (Pia Kruckenhauser, 22.8.2021)