Evakuierungsflüge der USA (im Bild) und anderer Staaten bringen Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul.

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Kabul – In Afghanistan befinden sich derzeit wohl nicht, wie angenommen, rund hundert deutsche Staatsbürger, sondern hunderte. Das berichtete die Nachrichtenagentur dpa mit Verweis auf eine Liste des Auswärtigen Amts am Freitag. Eine "mittlere dreistellige Zahl" von deutschen Staatsbürgern habe sich dort mittlerweile registriert. Die deutsche Regierung schickt nun zwei Militärhubschrauber nach Kabul, um die Menschen abzuholen und zum Flughafen zu bringen.

Wie General Eberhard Zorn am Freitag bekanntgab, werden die Hubschrauber nur in Kabul benutzt und nicht in Städten wie Mazar-e-Sharif. Sie sollen am Samstag startklar sein, die Mission wird mit den US-Truppen koordiniert.

Bereits in der Nacht auf Freitag brachten deutsche Bundeswehrmaschinen erneut hunderte Menschen aus der afghanischen Hauptstadt. Auch die USA verstärkten ihre Bemühungen zur Evakuierung von US-Amerikanern, Afghanen und Menschen anderer Nationalitäten aus Kabul. Nach Angaben des US-Außenministeriums warten auf dem Flughafen Kabul rund 6.000 Menschen, die alle Voraussetzungen für die Ausreise erfüllen.

Deutscher durch Schüsse verletzt

Ein Deutscher wurde auf dem Weg zum Flughafen Kabul durch Schüsse verletzt. Es handle sich um einen Zivilisten, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag. "Er wird medizinisch versorgt, es besteht aber keine Lebensgefahr", so Demmer. "Und er wird bald ausgeflogen werden."

Aus Washington hieß es, das US-Außenministerium schicke zusätzliche Konsularbeamte nach Katar und Kuwait, um dort die Weiterreise der Menschen zu organisieren. Außerdem seien weitere Beamte in Kabul gelandet, wo rund um den Flughafen weiter Chaos herrscht. Das Ziel sei, so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich aus dem Land zu bringen. Allein am Donnerstag seien 3.000 Menschen evakuiert worden. Ned Price, der Sprecher des US-Außenministeriums, teilte am Donnerstag mit, dass in der Nacht auf Freitag etwa 20 Flüge starten würden.

"Grausame Szenen" rund um Flughafen

Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums seien in engem Kontakt mit den Taliban außerhalb des Flughafens, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby. "Wir wollen nicht, dass jemand belästigt oder verletzt wird." Kirby betonte, dass man keinen kompletten Überblick darüber habe, was außerhalb des Flughafens passiere und ob auch Menschen mit US-Pässen oder -Visa von den Taliban schikaniert würden. Man habe auf dem Flughafen zusätzliche Gates geöffnet, um die Evakuierung zu beschleunigen. Die Nato will unterdessen ihre Bemühungen bei den Evakuierungen aus Afghanistan verdoppeln.

Die Journalistin Ayesha Tanzeem vom US-Auslandssender Voice of America berichtete via CNN von "grausamen Szenen" rund um den Flughafen. Die Situation sei genauso schlimm, wie es auf zahlreichen Videos zu sehen sei – und werde immer schlimmer. Sie selbst sei erst beim dritten Anlauf in den Flughafen gekommen und sei stundenlang im Gedränge gestanden.

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Rund um den Flughafen in Kabul drängen sich Massen an Menschen, die fliehen wollen.
Foto: REUTERS/OMAR HAIDARI

6.000 Personen warten "vollständig abgefertigt"

"Ich kann bestätigen, dass sich derzeit 6.000 Personen auf dem Flughafen befinden, die von unserem Konsularteam vollständig abgefertigt wurden und bald an Bord der Flugzeuge gehen werden", sagte der US-Außenministeriumssprecher Price am Donnerstag. Es handle sich um US-Amerikaner, Afghanen und Menschen aus anderen Staaten.

Auch Großbritannien will den Zeitplan für den Abzug beschleunigen. Der letzte britische Evakuierungsflug soll nach Plänen der britischen Regierung Kabul schon in fünf Tagen verlassen, wie die "Times" berichtete. Demnach soll den Ministern Anfang der Woche mitgeteilt worden sein, dass der letzte Evakuierungsflug am Dienstag vor dem geplanten Abzug der US-Streitkräfte am 31. August starten müsse.

Die in Spanien gelegene Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge aus Afghanistan sei für 1.000 Menschen ausgelegt, sagte Spaniens Außenminister José Manuel Albares. Von dort würden die Afghanen und ihre Familienmitglieder auf weitere EU-Länder verteilt.

Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, rechnet indes nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden großen Fluchtbewegung nach Europa. Das Ausmaß hänge davon ab, wie hart Taliban nach der Machtübernahme aufträten, sagte er dem "Corriere della Sera". In erster Linie seien Länder in der Region betroffen: Pakistan, der Iran und vielleicht auch Tadschikistan.

US-Evakuierung bis Ende August

Unterdessen wurden neue Vorwürfe laut, dass die US-Regierung nicht rechtzeitig auf Warnungen gehört habe. CNN berichtete, dass US-Diplomaten im Juli ein geheimes Schreiben an Außenminister Antony Blinken geschickt und ein schnelles Handeln gefordert hätten. "Soweit ich weiß, wurde in dem Telegramm der mögliche Sturz der afghanischen Regierung nach dem Abzug der US-Truppen am 31. August vorausgesagt", sagte der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Jonathan Finer dazu. "Ich denke, das Telegramm spiegelt wider, was wir schon die ganze Zeit gesagt haben." Niemand habe erwartet, dass die afghanische Regierung und Armee binnen weniger Tage kollabieren würden.

Nach Ansicht des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, trägt der ehemalige US-Präsident Donald Trump eine große Mitschuld an der Lage. "Der Sündenfall, der passierte ja lange vor dem Dienstantritt von (US-Präsident) Joe Biden", sagte er am Freitag im Deutschlandfunk. "Der Sündenfall war das Abkommen, das unter Donald Trump mit den Taliban geschlossen wurde." Die militanten Islamisten hätten dann nur noch auf den Abzug der US-Truppen warten müssen.

Auch Österreicher in deutschen Evakuierungsflügen

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) kritisierte Reuters zufolge die Arbeit des deutschen Bundesnachrichtendiensts (BND) zu Afghanistan. "Der BND hat offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen, so wie andere Dienste auch", sagt Maas dem "Spiegel". Die Entscheidungen, die aufgrund fehlerhafter Berichte getroffen worden seien, seien nach bestem Wissen und Gewissen gefallen, im Ergebnis aber falsch gewesen. Die Dienste hätten falsche Einschätzungen voneinander übernommen. Das könne nicht ohne Konsequenzen für die Arbeitsweise der deutschen Nachrichtendienste bleiben.

Während das US-Militär mit Stand Donnerstagmorgen 2.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden evakuiert hatte, hat die deutsche Bundeswehr seit Montag mehr als 1.600 Menschen aus Afghanistan in Sicherheit gebracht. Am Freitagmorgen landeten zwei weitere Maschinen aus Kabul mit insgesamt mehr als 360 Menschen in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, von wo aus sie mit zivilen Flugzeugen nach Deutschland gebracht werden.

Auf den deutschen Evakuierungsflügen sollen nach Angaben des Außenministerium auch die Österreicher untergebracht werden, die sich noch in Afghanistan befinden. Bisher gelang es demnach, vier Personen außer Landes zu bringen. "Einige Dutzend" Österreicher mit afghanischen Wurzeln halten sich laut Außenministerium noch in und um Kabul auf. Die Zahlen würden sich laufend ändern, hieß es am Freitag. Am Donnerstag war noch von 50 Personen die Rede. Ein aus Mitarbeitern des Außenministeriums und Bundesheerangehörigen bestehendes Krisenteam, das die Österreicher bei der Ausreise unterstützen soll, werde mit der "ersten für heute geplanten Maschine der deutschen Bundeswehr" von Taschkent nach Kabul reisen.

Amnesty International berichtet von "brutalen Tötungen"

Unterdessen steigt die Angst vor gewaltsamen Racheakten der Taliban. Die G7-Staaten reagierten alarmiert auf entsprechende Berichte und forderten die Islamisten auf, die von ihnen zugesagte Sicherheit von Zivilisten auch wirklich zu gewährleisten. Diese Botschaft ging von einer Telefonkonferenz der Außen- und Entwicklungshilfeminister der G7-Staaten aus, zu denen die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland Italien, Kanada und Japan sowie Vertreter der EU gehören.

Amnesty International berichtete unter Berufung auf Augenzeugen von "brutalen Tötungen" durch die Taliban in der Provinz Ghazni im Juli. In dem Dorf Mundarakht im Bezirk Malistan seien sechs Männer der schiitischen Minderheit der Hazara erschossen und drei zu Tode gefoltert worden, gab die Menschenrechtsorganisation am Freitag bekannt. Dabei sei ein Mann mit seinem eigenen Schal erwürgt und seine Armmuskeln abgetrennt worden.

"Die kaltblütige Brutalität dieser Tötungen erinnert an die Vergangenheit der Taliban und ist ein erschreckender Hinweis darauf, was die Taliban-Herrschaft bringen kann", sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Die Organisation forderte den UN-Menschenrechtsrat auf, einen "soliden Untersuchungsmechanismus" einzurichten. Der UN-Sicherheitsrat solle indes eine Dringlichkeitsresolution verabschieden, "in der die Taliban aufgefordert werden, die internationalen Menschenrechtsnormen zu respektieren". (APA, red, 20.8.2021)