Mit Literatur die Erinnerung lebendig halten, etwa an die ersten Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus Wien in die Vernichtungslager vor 80 Jahren.

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Vor 80 Jahren erteilte Göring den Auftrag zur endgültigen Vernichtung von Juden. Das Wort Endlösung wird als Umschreibung dafür verwendet. 1941 werden vom Aspangbahnhof erstmals Züge mit Wiener jüdischen Deportierten in Richtung Polen geschickt. Vor 80 Jahren greifen die Japaner Pearl Harbor an, daraufhin treten die USA ins Kriegsgeschehen ein. Für die nach Schanghai geflüchteten jüdischen Österreicher wurden die Zustände vor Ort damit noch unerträglicher. Ist das tatsächlich alles vorbei? Haben wir damit noch zu tun?

Spuren damaliger Geschehnisse reichen bis in unsere Zeit. Sei es, indem wir davon wissen, sei es, indem wir uns dem Wissen verschließen, sei es, indem das Unwissen unsere Existenzen beherrscht. Viele Geschichten bleiben zu erzählen und in Bezug zu schuldhafter Familiengeschichte zu stellen. Literarische Autorinnen können mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit lenken. Ihre Strategien sind dabei in ständiger Entwicklung begriffen.

Die Nacherzählung historischer Ereignisse, ein fiktional aufbereitetes Protokollieren also, bildet eine Basis, die sich nahe an der Geschichtsschreibung bewegt. Dazu kommt die sogenannte Generationenerzählung, eine Darstellung der Vergangenheit vermittelt durch Geschehnisse der eigenen Familiengeschichte, die vom Privaten ausgeht und in die allgemeine Historie überleitet.

Vermehrt zeigt sich mittlerweile auch die Thematisierung von Problemen fiktionaler Darstellung von Historie, Zweifel an Methoden, Kritik von Quellen, Miteinbeziehung emotionaler Effekte, die diese Arbeit in den Nachforschenden verursacht.

Analyse der Tätersprache

Auf der materialbetonten Seite steht eine harte Analyse der Tätersprache, die sich jeglicher Fiktionalisierung und Personalisierung enthält. Mit dem Aussterben von Zeitzeuginnen schließlich wächst die Zahl von Darstellungen aus zweiter Hand. Archive machen Quellen auch für Nichthistoriker zugänglich, die räumliche Vernetzung durch das Internet stellt Dokumente weltweit zu Verfügung; so wird einer jüngeren Generation die Historie zum Material.

Zum Selbstbedienungsladen, wie es zum Beispiel in der Diskussion um den Roman Stella von Takis Würger hieß. Einzelne, gut dokumentierte Schicksale, wie das von Stella Goldschlag, werden reißerisch aufbereitet, Problematiken vor allem als Verstärker von Spannungselementen gesetzt.

Aber darf ein Roman über das Böse unterhaltsam sein? Der Erfolg gab dem Autor recht, sodass er sich neuerlich einem verbürgten Schicksal zuwandte, die Geschichte nacherzählend, im Grunde sogar wiederholend, da der Shoah-Überlebende seine Autobiografie längst veröffentlicht hatte.

Die amerikanische Literaturwissenschafterin Marianne Hirsch entwickelte zur Beschreibung von zeitgenössischen Vorhaben, geschichtliches Wissen in Literatur zu verarbeiten, das Konzept der Postmemory: Autorinnen der Nachfolgegeneration bewegen sich frei durchs Material, verfügen darüber wie ein Regisseur, ohne selbst von Krieg und Verfolgung belastet zu sein. Die Nach-Erinnerung bedeutet keine leibhaftige Verbindung zur Vergangenheit, sondern wird mittels Imagination, Projektion und Kreation hergestellt.

Leerstellen des Erinnerns

Gerade die Leerstellen des Erinnerns fordern Autorinnen dazu auf, geschichtliche Ereignisse mit fiktionalen Mitteln zu rekonstruieren und das historische Gedächtnis literarisch zu erweitern. Im Zentrum steht vor allem die Umwandlung geschichtlicher Fakten in eine Erzählform, welche eine Annäherung zwischen dem Vergangenen und dem Heute möglich macht. Für die Recherche werden dabei Methoden genützt, die auch von Historikern angewendet werden.

In der Darstellung des gefundenen Materials verfügt die Literatur aber über weitaus mehr methodische Freiheiten und öffnet ungekannte Räume.

Unter anderem stellen sich den Autorinnen, sobald sie sich daranmachen, mit Geschichte zu arbeiten, folgende Fragen: Wie recherchieren? Wie umgehen mit dem historischen Material? Wie das Archiv sichtbar machen? Wie Erinnerung lebendig gestalten? Wie die Stimme der Ungehörten ergreifen? Welche Verantwortung haben Autoren für diese Stimmen? Welche narrativen Strategien sind nötig? Wie die Balance zwischen "fact" und "fiction" finden, ohne die Fakten zu verfälschen? Wer hat die Deutungshoheit über den historischen Stoff?

Aufrichtige Auseinandersetzung

Der Linzer Dichter Heimrad Bäcker hat sich als erster Autor nach dem Zweiten Weltkrieg Archiven gewidmet und die Sprache der nationalsozialistischen Bürokratie und Gesetzgebung als Mittäter des Mordens enttarnt und ausgestellt. Niemand sonst hat den berühmten Ausspruch Adornos, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien, derart wörtlich ausgearbeitet.

Bäcker ist damit Wegbereiter einer aufrichtigen Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten. In der Arbeit damit entwickelte er verschiedene Strategien. Der Titel seiner Sammlung nachschrift von 1986 erweist sich als zweideutig. Einmal bezeichnet er das Epitaph, eine Ehrung der Toten. Ein anderes Mal verweist er auf die Methode, mit bereits verschriftetem Material umzugehen.

Im Gegensatz zum verdichtenden Verfahren Bäckers zeichnet sich das 2007 im kroatischen Original erschienene Buch Sonnenschein der kroatischen Autorin Daša Drndić durch überbordende Fülle aus und widersteht nahezu grundsätzlich jeglicher Einordnung. Ein zufälliger Fund sei der Anlass gewesen, die Arbeit daran zu beginnen, bekennt die Autorin.

Drndić hatte die Darstellung einer aus dem damaligen Görtz stammenden Familie, die sich selbst als Opfer der deutschen Besatzung Italiens beschrieb, im Internet gefunden. Diese nachträgliche Beschönigung einer schweigenden Kollaboration löste in Drndić ein heftiges Bedürfnis nach Entgegnung aus.

Unmengen von Beweismaterial

Die Autorin tauchte tief in die Archive und förderte Unmengen von Beweismaterial zutage, woraus der Roman entstand. Das bestimmende Gestaltungsprinzip von Sonnenschein bildet ein Verbinden dieser Quellen nach assoziativen Maßgaben. Das einzig durchgehende Ordnungsprinzip ist eine ungefähre Chronologie der Ereignisse. In Sonnenschein können sich einzelne Sinneinheiten immer wieder formieren, jedoch nicht zwangsläufig und vor allem stets auf andere Weise.

Die Autorität eines objektiven historischen Erzählers wird aufgegeben, verschiedene Wahrheiten werden zum Sprechen gebracht. Das kann überfordern, doch wird auf diese Weise eine Unruhe aufrechterhalten, die Wendung in eine schöne und schön abgeschlossene Geschichte, wie sie zum Beispiel der Täter Kurt Franz in seinen Erinnerungen vorspiegelt, vermieden.

Daša Drndić will mit Sonnenschein aufstören und zeigen, dass wir Heutigen aus diesem vergangenen Material gebaut sind. Heimrad Bäcker hingegen stellt aus, wie die Zerstörung mittels einer Sprache bewerkstelligt wurde, die wir auch heute verwenden.

Sprache und Wirklichkeit

Mit dem 2008 publizierten Roman Shanghai fern von wo hat Ursula Krechel das Thema des jüdischen Exils in Schanghai während des Zweiten Weltkriegs in die deutschsprachige Literatur eingeführt. Eine nicht allwissende, aber allgegenwärtige, in Richtung Wahrheit dringende Erzählerin dirigiert ein Geschehen, das vor allem in der asiatischen Metropole spielt und Erinnerungen an Berlin aufruft.

Sie bedient sich dabei einer vorgeschobenen Stimme, die sie den Aufzeichnungen und auf Tonbändern gespeicherten Berichten einer Hauptfigur namens Lazarus zuschreibt, dessen Aussagen die Erzählerin einordnet und hinterfragt, wobei sie Lücken, vor allem des historischen Kontexts, füllt.

Der Roman kann als Hommage an die ungesühnten und kaum entschädigten Opfer verstanden werden, denen die Autorin mithilfe dieses Buches zu Recht verhilft. Über ihre Schicksale wird mit den Mitteln der Literatur verhandelt. Darin eingeschlossen finden sich Analysen des Exils an sich, des Auseinanderklaffens von Erinnerung und Gedächtnis, eine Kritik der Oral History sowie der existenziellen Verbindung von Sprache und Wirklichkeit.

Sammeln und Nacherzählen

Die im Nachgang angeführten Quellen und Archive betonen die Authentizität der Vorgänge, welche jedoch erst lebendig werden, als die Autorin es in die Hand nimmt, von ihnen zu erzählen. In Selbstzeugnissen der Zeitzeugen sind Elend und Schmerz weniger spürbar, denn es sind Berichte von Überlebenden, die ihre Erniedrigungen im Erzählen nicht wiederauferstehen lassen wollen. Lieber wird darüber berichtet, wie es war, bevor das Unglück begann, wird aufgezählt, was verlorenging.

Das Vergangene wird – weil weit zurück in der Zeit liegend – überhöht, der Bericht über Lebensumstände im Exil eher sachlich abgehandelt und kurz gehalten. Ein Zusammenhang kann so nur fiktional, durch die Autorin, hergestellt werden.

Sabine Scholls neuer Roman "Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird" erscheint im Oktober im Sonderzahl-Verlag.

Erzählen bedeutet in diesem Sinne Sammeln und Nacherzählen verschiedener Dokumente sowie gleichzeitig die Lückenhaftigkeit und Fiktionalität des Erzählverfahrens zu reflektieren. Die Einzigartigkeit von Krechels Roman besteht in der methodischen Vielfalt, um Geschichte und vergangene Schicksale in der Gegenwart auferstehen zu lassen und zumindest literarisch eine Wiedergutmachung zu erzielen.

Heimrad Bäckers strenges Diktum einer Ablehnung des Erzählerischen und Fiktionalen in der Darstellung des Holocaust konnte sich bei einer nachfolgenden Generation von Autoren und Autorinnen nicht durchsetzen.

Das Herauspräparieren des grausamen Gehalts sprachlicher Wendungen stellt nun meist den ersten Schritt einer Recherche dar, während in darauffolgenden gestalterischen Vorgängen versucht wird, das Material einer Erzählung, sei sie auch noch so fragmentarisch, zu verbinden.

Dennoch ist heute die Beschäftigung mit Dokumenten der Nazidiktatur durch eine Generation von Dichtern, die den Krieg nur mehr vom Hörensagen kennen, nicht mehr selbst erlebt haben, so lebendig wie lange nicht mehr. (Sabine Scholl, ALBUM, 21.8.2021)