Marschiert nicht mit den Massen: Luca Marinelli im Titelpart von "Martin Eden".

Foto: Filmladen

Die Armut müsste man mit einem guten Stück Brot einfach auftunken. Anhand eines Tellers Pasta demonstriert der Matrose Martin Eden (Luca Marinelli) der vornehmen Runde beim Mittagessen seine Reformideen. Dort findet man das "molto simpatico", aber auch ein wenig einfältig. Das Stück Brot symbolisiert die Bildung, den gesellschaftlichen Vorsprung, der Eden selbst am meisten fehlt. Für das in ihm lodernde Feuer fehlen ihm so die geeigneten Werkzeuge. Für die angehimmelte Elena (Jessica Cressy) ist er deshalb keine gute Partie.

US-Romancier Jack London hat seinen autobiografisch gefärbten Martin Eden 1909 als einen irrlichternden Bildungsroman entworfen. Ein Mann aus der Arbeiterklasse erzieht sich selbst, um sich einer von ihm verehrten jungen Frau aus besserem Hause würdig zu erweisen. Als selbst geschulter "homme de lettres" arbeitet er wie besessen daran, Anerkennung als Autor zu finden, entfernt sich aber letztlich von seiner Herkunft immer mehr. Auch der Anschluss ans Bürgertum misslingt.

The Match Factory

Regisseur Pietro Marcello bezeichnet Eden im Gespräch als Prototypen "der Perversionen und des Aufruhrs eines ganzen Jahrhunderts": Es handle sich um eine Geschichte der Selbstermächtigung, eine ,éducation sentimentale‘ – mit dem wichtigen Unterschied, dass Eden zum Opfer seines Ehrgeizes wird. Marcello macht Eden in seiner gefeierten filmischen Adaption zum aufmüpfigen Italiener, einem Querdenker, der sich erstaunlich schlüssig in die bewegte Geschichte unseres Nachbarlandes einfügt. "Mein Eden verdankt auch Carlo Levi und Ignazio Silone viel, und natürlich Pasolini und Pavese."

Auf die edle Ausstattung eines "period piece" legt der Film nur wenig Wert, dafür ist er an allen Seiten perforiert, um äußere Einflüsse aufzunehmen. Edens romantische Avancen bilden nur einen Strang, mindestens ebenso wichtig ist das politische Prisma, das der Held durchschreitet, ohne sich vorschnell zu positionieren. Die Versprechen des Sozialismus prallen an ihm ab, umso mehr schwärmt er für die sozialdarwinistischen Ideen des Philosophen Herbert Spencer. Dessen Individualismus korrespondiert mit Edens Willen zum Aufstieg. Gemeinsam mit seinem Freund Russ Brissenden (Carlo Cecchi) liebäugelt er mit dem Anarchismus.

Dokumentarische Form

Marcello ist durch hybride Dokumentarfilme wie Bella e perduta (2015) bekannt, die zwischen Volkskultur und Mythos einerseits, Misswirtschaft und politischem Versagen anderseits mäandern. Der Dokumentarismus sei ihm bei seinem ersten größeren Spielfilm entgegengekommen, sagt Marcello, denn er sei auf alle Eventualitäten gefasst geblieben. Das Drehbuch habe er etwa mehrmals adaptiert oder neue Orte als Schauplätze verwendet, die ihm passender erschienen.

Anachronistisch ist in Martin Eden der Einsatz von Musik und mannigfaltiger Bildtypen, woraus der Film viel von seiner poetischer Wirkkraft bezieht. Ein klassischer Score wird durch Italo-Schlager aus den 1960ern oder 1980er-Disco-Nummern ergänzt, Archivbilder und Homemovies kommentieren die Gefühlswogen von Eden und verankern den Film zugleich in einem weiter gefassten Zeitraum.

Gegenwärtig, sagt Marcello, sollte der Film aber in seinem Anliegen sein. Und das ist er auch, wenn Eden immer mehr zum negativen Helden wird, einem übersteuerten, innerlich ausgebluteten Egomanen. (Dominik Kamalzadeh, 21.8.2021)