"95 Prozent der Long-Covid-Fälle werden innerhalb eines absehbaren Zeithorizonts von selbst wieder gut. Es braucht einfach etwas Geduld." Ralf Harun Zwick

Illustration: Horst Stein

Sie ist Mutter. Hat zwei Kinder. Nennen wir sie Maria. Bis vor wenigen Monaten schupfte sie täglich ihr Familienleben mit links, den Job mit rechts. Heute sind das für die junge Frau nicht mehr zu bewältigende Aufgaben. Zu erschöpft ist sie. Körperlich. Auch seelisch. Maria steht stellvertretend für jene Menschen, die trotz einer mild verlaufenen Corona-Infektion unter dem sogenannten Post-Covid-Syndrom leiden. Sie weiß heute nicht, ob sie morgen oder jemals wieder ganz gesund werden wird.

Die Sache ist in der Tat tückisch, wie Lea Verner bestätigt. Die 44-Jährige ist als stellvertretende Abteilungsvorständin für Innere Medizin im Herz-Jesu-Krankenhaus Wien täglich mit dem Thema konfrontiert. Sie weiß: "Noch vor ein paar Monaten waren es zehn bis zwölf Prozent, die einige Woche nach einem harmlosen Verlauf plötzlich mit Long-Covid-Symptomen zu uns gekommen sind. Heute liegt diese Quote bei 15 Prozent. Tendenz steigend." Und noch etwas ergibt die Auswertung von Verners Daten: Ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz der Betroffenen ist jung und weiblich. Wie Maria eben.

Antriebs- und Kraftlosigkeit

Um die Tragweite solcher Härtefälle verstehen zu können, muss man sich die Symptome, unter denen diese Menschen leiden, erst einmal bewusstmachen. Aktuell werden über 200 unterschiedliche Symptome mit Long Covid in Verbindung gebracht. Meistens aber geht es um eine ausgeprägte Antriebs- und Kraftlosigkeit. Das geht so weit, dass Managerinnen aus ihrem Berufsleben gerissen werden, Mütter ihre Kinder nicht mehr versorgen, Menschen ihren Alltag nicht mehr allein stemmen können.

Abgesehen von den akuten Auswirkungen sei dabei vor allem die Perspektivlosigkeit schlimm, sagt Verner. "Wir können den Patienten nicht sagen, dass es in drei oder vier Monaten sicher wieder gut ist. Weil wir es schlichtweg nicht wissen. Wir wissen auch nicht, ob es nach einer Verbesserung nicht womöglich wieder eine Verschlechterung gibt."

Dieser Umstand würde bei den Betroffenen oft zusätzlich Angststörungen auslösen. Daher sei abgesehen von der medizinischen Betreuung und der Reha-Arbeit ihrer Ansicht nach eine zusätzliche psychologische Therapiesäule besonders wichtig.

Run auf Doktor Google

Ein Aspekt, den Belinda Schittengruber und Florian Schultheiss sehr bald nach Auftreten erster Hinweise auf Long-Covid-Erkrankungen aufgegriffen haben. Die Psychotherapeutin und der diplomierte Sozialarbeiter mit Marketing-Background stellten aus diesem Grund schon im vergangenen Sommer die Plattform long-covid.at ins Netz. Vorrangiges Ziel: Man wollte einschlägige Kontakte für Betroffene bereitstellen, die psychologische oder medizinische Unterstützung in Bezug auf Long Covid suchten.

Allerdings habe man die Situation von Anfang an aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, wie Schultheiss betont. Einerseits gehe es darum, vormals pumperlgesunden Menschen, die von einem Tag auf den anderen von der Couch nicht mehr hochkommen, zu helfen. Andererseits "erleben wir hier die einmalige Chance, eine neue Erkrankung nicht nur medizinisch, sondern gleichzeitig auch psychologisch und psychotherapeutisch verstehen lernen zu können". Hier fungiere long-covid.at als Drehscheibe.

Abgesehen von den akuten Auswirkungen ist für Long-Covid-Betroffene vor allem die Perspektivlosigkeit schlimm.
Illustration: Horst Stein

Die Relevanz der Plattform wird von ihrer eigenen Zugriffstatistik untermauert. Anfangs sei die Website gefunden worden, weil Menschen nach ambulanten Behandlungen suchten, berichtet Schultheiss. Später, weil sie nach Reha-Möglichkeiten Ausschau hielten. "Heute sind es verstärkt Anfragen von Menschen, die Covid in Kombination mit den Schlagworten ,Psyche‘ oder 'Psychotherapie' googeln", so der Fachmann. Daraus lässt sich ableiten, dass offenbar der seelische Leidensdruck in der Bevölkerung in Summe immer höher wird. "Betroffene wollen immer verzweifelter ihr altes Leben zurück", so Schultheiss.

Mediale Panikmache oder mehr?

Doch es gibt mehr als nur Hoffnung, betont der Wiener Internist Ralf Harun Zwick. Er ortet in Zusammenhang mit dem Post-Covid-Syndrom eine Form der medialen Panikmache. Und sagt: "Corona ist nicht der böse Strahl des Messias. Es ist eben eine Viruserkrankung, und wir wissen im Grunde, was von einer solchen zu erwarten ist." So sei eine postvirale Erschöpfung, im Fachjargon Fatigue-Syndrom, in Zusammenhang mit Viruserkrankungen nichts Neues.

"95 Prozent der Fälle werden innerhalb eines absehbaren Zeithorizonts von selbst wieder gut. Es braucht einfach etwas Geduld", beschwichtigt der Spezialist für Herz und Lungenerkrankungen. Den verbleibenden fünf Prozent würde man zumindest aus seiner einschlägigen Erfahrung heraus zu 96 Prozent mittels besonders achtsamer Reha-Therapien helfen können. "Ob uns das langfristig auch mit dem wirklich kleinen verbleibenden Teil gelingt, wissen wir erst im Winter", sagt er – gibt sich aber zuversichtlich.

Unbestritten ist auch seiner Meinung nach die Schwierigkeit der Diagnostik einer Long-Covid-Erkrankung. Das liege allerdings nicht bloß an der Komplexität der Symptomatik. Unter anderem würden dafür notwendige diagnostische Methoden nicht eingesetzt. "In Wien etwa bekommen niedergelassene Fachärzte eine Diffusionsmessung, um den Gasaustausch der Lunge prüfen zu können, nicht bezahlt. Eine Messung der Atemmuskelkraft ebenso wenig", moniert er. Nachsatz: "Deshalb werden diese Untersuchungen auch nicht durchgeführt."

Ein Handbuch für Ärzte

Um die Diagnosemöglichkeiten trotzdem zu verbessern, haben er und Kollegen aus den betroffenen Disziplinen jetzt einen Long-Covid-Leitfaden entwickelt. Also ein Handbuch für praktische Ärzte. "Im Kern geht es dabei darum, dass Hausärzte einen Verdachtsfall erkennen können, um diesen ohne Umwege an den jeweils richtigen Facharzt weiterzuüberweisen", so Harun Zwick.

Damit sollen künftig Diagnosen nicht nur früher und präziser gestellt werden können, sondern Betroffene vor allem schneller Hilfe bekommen. Um die Leidensdauer für Long-Covid-Patienten wie Maria langfristig möglichst kurz zu halten. (Johannes Stühlinger, CURE, 31.8.2021)