Das Team um Andreas Goppelt forscht an Prothesen, die ihre Umgebung wahrnehmen und dann eigenständig reagieren können.

Foto: HO

Als Neil Harbisson am 27. Juli 1984 das Licht der Welt erblickte, zeigte sich ihm diese bloß in unterschiedlichsten Grautönen. Kein Rot. Blau. Grün. Achromatopsie, so die Diagnose: absolute Farbblindheit – also die genetisch bedingte und sehr seltene Unfähigkeit, Farben wahrnehmen zu können. Und jedenfalls eine Einschränkung, die Betroffene als mehr oder weniger starke Behinderung wahrnehmen.

Neil Harbisson gehört zu jenen Menschen, denen diese Einschränkung besonders zu schaffen machte. Als Künstler, der er dennoch wurde, wollte er Farben verstehen und nicht alles schwarz-weiß sehen. So suchte er einen Weg in die Buntheit: Seit seinem 20. Lebensjahr trägt der Spanier eine Antenne auf dem Kopf, die mit seinem Hirn direkt verbunden ist. Sie ermöglicht es ihm seither, Farben zu hören, weshalb er sie auch liebevoll Eyeborg nennt. Und sich selbst Cyborg.

Superman versus Normalität

Bild nicht mehr verfügbar.

Ursprünglich wollte Neil Harbisson seine Farbblindheit ausgleichen. Inzwischen kann er mit seiner Antenne mehr wahrnehmen als andere.
Foto: Picturedesk.com / Action Press / Lars Norgaard

Wenn man so will, stellt Neil Harbisson nicht nur so ein Hybridwesen aus Biologie und Technologie dar, sondern auch eines aus den beiden derzeit vorherrschenden Meinungsansätzen, unter deren Spannung das Thema Bionik aktuell steht.

Er eint jene, die mit den modernen Möglichkeiten von Technik Supermenschen erschaffen wollen, mit jenen, die die gleichen Optionen als Weg verstehen, um Menschen mit einem Handicap wieder Normalität zu verschaffen. Denn Neil Harbisson kann dank seiner Antenne auf eine kreative Art und Weise Farben wahrnehmen: Er kann sie hören. Und seit seinem letzten Update kann der 37-Jährige sogar Wellenlängen wie Infrarot und Ultraviolett lauschen. Er hat sich verbessert.

Medizinische Seite

Andreas Goppelt gehört zu jenen Personen, die einer aus den Fugen geratenen Lebenswelt wieder Normalität verleihen möchten. Der Geschäftsführer von Ottobock in Österreich verantwortet zudem die gesamte Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Weltmarktführers in Sachen Prothetik.

Er sieht die medizinische Seite der Dinge. Jene, bei der es "erst einmal darum geht, Menschen Lebensqualität zu vermitteln und ein normales Leben zu ermöglichen", sagt er. Das Ziel ist, Normalität herzustellen. Sofern das denn im Bereich des Möglichen liegt.

Und die Grenzen des Machbaren weiter zu verschieben, das ist Andreas Goppelts Mission – und die wird in den vergangenen Monaten von Erfolgsmeldungen befeuert. Erst vor wenigen Wochen publizierte Ottobock Healthcare Products gemeinsam mit Oskar Aszmann von der Medizin-Universität Wien Ergebnisse, die international als "Meilensteine in der Prothetik" wahrgenommen werden.

Neue Optionen

Vereinfacht ausgedrückt, gelang es dem Forscherteam, den bei einer Armamputation verbleibenden Brustmuskel eines Patienten in vier Muskelgruppen zu segmentieren und an die entsprechenden Nerven anzubinden, die jeweils ein eigenes Steuersignal generieren können. Diese Impulse werden dann von der Hautoberfläche von Sensoren aufgegriffen und an eine Handprothese übermittelt. Diese führt schließlich gezielt Handbewegungen aus – allein durch die Nervenreize.

Bei Ottobock forscht man an künstlichen Beinen, die nicht nur die Dämpfung dem Schrittzyklus anpassen, sondern auch selbst Energie abgeben können.
Foto: Marco Moog

Dazu kurz ein Ausflug in die von Ottobock schon gelebte Realität: Sofern Patienten der Unterarm entfernt wurde, sind das "Abhören" von Muskelaktivitäten im verbliebenen Stumpf und deren Übertragung auf die Hightech-Prothese schon Standard. Kombiniert mit selbstlernender Software können Betroffene heute ihre Prothese allein durch Nervenimpulse steuern.

Doch die neuesten Forschungsergebnisse Aszmanns lassen jetzt auch Menschen hoffen, denen gar der ganze Arm fehlt. "Damit nicht genug", erzählt Andreas Goppelt, sind Fachkollegen aus den USA dabei, die Prothetik auf ein gänzlich neues Level zu heben. Ihnen gelang es, dass Träger einer Prothese diese als Körperbestandteil und nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen haben. In einer noch laufenden Studie mit 20 Personen erzielen Forscher am MIT in den USA seit zwei Jahren große Erfolge.

Beispiel: Ein verunfallter Kletterer erfühlte nicht nur einen Klebestreifen, auf den er mit seiner Beinprothese getreten war. Der Mann erkletterte inzwischen jene Wand, die ihn einst abgeworfen hat. Sein überliefertes Zitat: "Der Roboter wurde ein Teil von mir." Sprich, er nimmt sein Bein als Bestandteil des eigenen Körpers wahr.

Eigenwahrnehmung

Nun darf man diese Art von "Fühlen" jedoch nicht mit dem "Spüren" gleichsetzen, das wir laienhaft im Kopf haben. Es werden bei dieser neuartigen Methode keine künstlichen Reize mittels Computerchips durch eine Prothese geschickt. Vielmehr machen sich Wissenschafter hierbei Erkenntnisse zunutze, die mit unserer Körperwahrnehmung zusammenhängen, wie Fachmann Goppelt erklärt: "Wenn wir die Augen schließen, können wir unsere beiden Zeigefinger zueinanderführen. Das hat mit unserer Eigenwahrnehmung zu tun": ein Resultat aus dem Zusammenspiel von Muskeln und Sehnen.

Wenn man den Arm beugt, ist der Bizeps der Agonist, während der Trizeps den dazugehörigen Antagonisten gibt. Da beide Muskeln über Sehnen und Knochen verbunden sind, wissen wir stets, wie unsere Armstellung aktuell ist. Bei einer Amputation wird genau diese Verbindung gekappt.

Vereinfacht erklärt, ist man nun dabei, diese Schnittstelle chirurgisch wiederherzustellen und so die wiederhergestellte Eigenwahrnehmung mittels der Nervenreize zur Steuerung von Prothesen einzusetzen, die künstliche Prothese in das körpereigene Verständnis einzubetten.

KI als Blackbox

Doch der Weg in Richtung Prothesen-Zukunft hat viele Gabelungen. Abseits der "Fühlenden Prothese" forscht man bei Ottobock zudem an "Aktiven Prothesen". Also an künstlichen Beinen, die nicht nur die Dämpfung dem Schrittzyklus anpassen, sondern auch selbst Energie abgeben können. Die Dimension dahinter ist leicht fassbar, wenn man sich vorstellt, was es heißt, bloß mit der Kraft eines Beines Stiegen zu steigen oder aus dem Sitzen aufzustehen.

Auch werden in Forschungsvorhaben Prothesen untersucht, die ihre Umgebung wahrnehmen können, um eigenständig reagieren zu können. "Das sind spannende Optionen", sagt Andreas Goppelt. Er weist aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Dinge allein schon aufgrund von Genehmigungsverfahren noch in weiterer Ferne liegen.

"Eine KI macht Dinge, die wir analytisch nicht genau vorherzusagen vermögen, die aber sehr zuverlässig sein können." Allein um für solche Produkte Zulassungen zu bekommen, müsse man alles bis ins kleinste Detail aufschlüsseln können. Ein Umstand, der Sicherheitsbedenken geschuldet ist, die Staat und Gesellschaft wohl zu Recht haben.

Wann kommt die Cyborg-Revolution?

Zudem kommt hier noch ein anderer Aspekt zum Tragen: Wenn solche Systeme einmal auf dem Markt sind, warum sollen sie allein für das vermeintlich Gute verwendet werden? Wäre es ein logischer Schluss, dass sie zu Verbesserung von, sagen wir, Soldaten genutzt würden?

China, USA und Frankreich arbeiten längst offiziell an Supersoldaten. Substanzen, die das Schmerzempfinden hemmen würden, sollen zum Einsatz kommen, Implantate, die Soldaten mit externen Waffensystemen verbinden auch. Oder Gerätschaften wie Exoskelette, die zu Dingen befähigen, die man sonst nicht könnte.

Aber kommen wir zurück zu Neil Harbisson. Er hat kürzlich sein Implantat mit dem Internet verbunden, um im nächsten Schritt fremden Menschen Zugang zu seinem Kopf zu ermöglichen. So soll man Token kaufen können, die dazu ermächtigen, "Farben an meinen Kopf zu senden, sodass jeder, der mich kauft, die Erlaubnis hat, meine Realitätswahrnehmung zu verändern und die Farben zu empfangen, die ich gerade wahrnehme", sagt er. Das soll das nächste große Ding in der digitalen Kunst werden, verspricht er.

Und er wundert sich gleichzeitig, dass diese Cyborg-Revolution so langsam voranschreitet und "nicht schon längst Mainstream ist". Mal schauen, wie lang er sich darüber noch wundern muss. (Johannes Stühlinger, CURE, 4.10.2021)