Grassbergers Ideal für den Tisch: regional, saisonal. Aus lebendigem Erdboden und frei von Schadstoffen.

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Im Innenhof grüßen Holler- und Rosmarinstauden, Kräutertöpfe, ein Mandelbaum. Zarte Gräser in kleinen grünen Inseln tragen ihre Köpfe stolz und hoch. Die Gemüsebeete ziehen sich in Terrassen den Hang neben dem Haus hinunter, dazwischen stehen Obstbäume.

Seit ein paar Jahren hat es den gebürtigen Salzburger, Wahlwiener und Zwischendurch-Hamburger Martin Grassberger ins Weinviertel verschlagen. Und es ist gleichzeitig eine Art Rückkehr zu seinen Wurzeln, die der Biologe und Facharzt für Gerichtsmedizin hier praktiziert.

Der Garten ist sein liebstes experimentelles Feld. Grassberger versucht sich an verschiedenen Anbaumethoden, bebaut, pflanzt, erntet. Sofern er nicht gerade an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien oder der Medizinischen Fakultät der Sigmund-Freud-Universität die Fachgebiete Human- und Gesundheitsökologie, Evolutionäre Medizin, Forensische Medizin sowie Pathologie lehrt. Oder Vorträge hält. Oder an Publikationen schreibt.

Plädoyer für Biolandwirtschaft

Zudem ist Martin Grassberger ausgebildeter landwirtschaftlicher Facharbeiter. Er weiß, wovon er spricht, wenn er sich für regenerative Biolandwirtschaft und eine Abkehr von industriellen Methoden auf dem Acker einsetzt. Sein Garten lädt jedenfalls zum Verweilen und Sinnieren ein – und zum Beobachten vielfältig surrenden, brummenden, flatternden Lebens.

STANDARD: Essen selbst anzubauen ist für einen Naturwissenschafter wohl nicht alltäglich. Woher kommt das? Sieht man als Gerichtsmediziner, dass wir an falscher Ernährung sterben?

Zwischen Garten und Gerichtsmedizin: Martin Grassberger.
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Martin Grassberger: Es stimmt schon: Bei Leichenöffnungen sieht man die körperlichen Endpunkte einer lebenslang falschen Ernährung, und das ist eindrucksvoll. Zu sagen, das sei der Grund, warum ich mich damit beschäftige, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Die Frage müsste eher andersherum lauten: Wie kann jemand, der sich sein Leben lang mit Natur und Landwirtschaft beschäftigt hat, Gerichtsmediziner werden? Die Antwort ist völlig unspektakulär: zufällig. Meine Liebe zur Natur hängt sicher damit zusammen, dass ich in ländlicher Umgebung am Stadtrand von Salzburg aufgewachsen bin und fast jeden Sommer mit meinen Eltern im Südwesten von England bei Freunden auf einem Bauernhof verbracht habe. Die Gerüche, die Hendln, der Wald, die Wiesen, der Stall ... all dies hat mich geprägt.

STANDARD: Was aber war es, das Sie für die Gerichtsmedizin begeistern konnte?

Grassberger: Die Gerichtsmedizin ist eine Art Schnittmenge meiner beiden Studien Medizin und Biologie – oder auch von Leben und Tod. Deshalb bin ich wohl dort gelandet. Vor allem der postmortale Teil wird sehr biologisch. Da geht es um Vorgänge, bei denen ehemals lebende Strukturen in Einzelteile zerlegt werden. Und dann stehen chemische Elemente wieder zur Verfügung – wie Legosteine –, und es wird neues Leben daraus gebaut.

STANDARD: Auf dem Weg vom Zerlegen zum Neubeginn gibt es spannende Stationen, gerade was Ernährung betrifft: Sauerteig, Hefe, fermentiertes Gemüse ... Offenbar machen wir uns diese Abbauprozesse gern zunutze.

Grassberger: Ohne mikrobiologische Prozesse läuft generell nicht viel. Ob das nun Genussmittel von Wein bis Bier, Käse, Kimchi, Salzgurken oder Sauerkraut sind oder unsere Geruchswahrnehmung, die auch von Mikroben beeinflusst werden dürfte. Und das Mikrobiom – jene Billionen von Bakterien und Pilzen, die unseren Körper besiedeln – ist ja überhaupt unsere zentrale Software-Einheit.

STANDARD: Ihr Buch Das leise Sterben wurde 2020 als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Sie schreiben darin, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Anstieg chronischer Krankheiten, der Zerstörung der Natur und der Sackgasse gibt, in die uns die industrielle Landwirtschaft geführt hat. Was macht die Ernährung mit uns?

"Ohne gesunde Nahrung gibt es kein gesundes Leben. Lebensmittel sind Information für uns." Martin Grassberger
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Grassberger: Ohne gesunde Nahrung gibt es kein gesundes Leben. Lebensmittel sind Information für uns. Und zwar im naturwissenschaftlichen Sinn. Das einfachste Beispiel ist, dass ein Lebensmittel Insulin ansteigen lässt, ein anderes aber nicht. Das ist eine Information, die der Körper bekommt und reagiert: Was tu ich jetzt, um mit dieser aufgenommenen Nahrung umzugehen? Es ist eine Information fürs Mikrobiom, wer sich dort vermehren kann und wer nicht. Ein anderes Beispiel sind sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die alleine oder in Verbindung mit dem Mikrobiom auf die epigenetische Expression wirken. Und dann gibt’s noch etwas ganz Neues: Es ist möglicherweise so, dass microRNAs, also ganz kurze Gen-Abschnitte, aus Pflanzen direkt auf den Menschen übergehen und dort das Ablesen von Genen unterbinden können. Und dass sie dadurch – zum Beispiel was Tumorentstehung oder -verhinderung betrifft – möglicherweise für die Wirkung mancher Lebensmittel verantwortlich sind. Da wird’s dann richtig spannend …

STANDARD: Bedeutet das, dass auch Pflanzenschutz- und Düngemittel unmittelbar auf oder in uns wirksam werden?

Grassberger: Das heißt, dass es nicht egal ist, was du isst. Es ist auch nicht so, dass sich das mechanistisch zerlegen lässt und wir sagen können, solange du Makro- und Mikronährstoffe in der richtigen Komposition hast, lebst du gesund. Es kommt eben darauf an. Die angesprochenen Spritzmittel wirken sich Studien zufolge jedenfalls negativ auf das Mikrobiom aus.
Es zeigt sich, dass eine Ernährung, die ähnlich der sogenannten mediterranen gestaltet ist, vor Krankheiten schützt, bei manchen den Verlauf bessert oder sogar heilen kann. Und was ist das? Eine saisonale und regionale Pflanzenvielfalt mit hoher Nährstoffdichte. Wenn möglich aus einem lebendigen Erdboden und frei von Schadstoffen. Aber nebenbei bemerkt ist es mehr, was Menschen in manchen Zonen der Erde besonders alt werden lässt: moderate Bewegung, ausgeprägtes Sozialleben und ein gewisses Naturerlebnis.

STANDARD: Inwiefern spielt das Naturerlebnis eine Rolle?

Grassberger: Intakte Natur tut uns nicht nur als Lieferantin von Lebensmitteln gut. Was von Pflanzen an flüchtigen organischen Stoffen abgegeben wird, ist wahrscheinlich ebenso beteiligt wie das mikrobielle Leben. Wir wissen auch, dass es in Haushalten, wo viele Bakterien oder deren Bestandteile in der Luft sind, weniger Allergien gibt. Aber die Medizin sagte bisher: Bakterien sind Krankheitsverursacher. Natürlich kann es passieren, dass du in einem Stall eine furchtbare Krankheit bekommst. Aber die Chance ist sehr gering. Und das ist auch etwas, worauf ich in meinem neuen Buch hinweise. Es ist nicht gut oder schlecht, nicht gesund oder krank, nicht entweder-oder. Diese Dichotomie, die wir gerne hätten, gibt es nicht. Es müsste alles permanent in der Gesamtschau betrachtet werden. Es kommt eben immer darauf an …

STANDARD: Können wir das? Können wir alles in der Gesamtschau sehen – und verdauen?

Grassberger: Da das Leben ziemlich komplex ist, wohl eher nicht. Wenn ich jemanden permanent Negativschlagzeilen aussetze, was alles Schlimmes passieren wird, dann reagiert er paradox oder steckt den Kopf in den Sand. Deswegen glaube ich auch, dass man positive Aspekte hervorkehren sollte. Wo liegen die Vorteile, die Natur zu erhalten? Wie gut tut es mir? Sich engagieren bedeutet, Dinge zum Thema zu machen. Und das in einem positiven Frame.

STANDARD: Ist das ein Lösungsansatz?

Grassberger: Ich bin überzeugt, dass ich etwas gernhaben muss, damit ich es erhalten will. Wenn es gelingt, in der Jugend die Beziehung zu einer intakten Natur herzustellen, will man sie später auch. Vielleicht ähnlich wie Naturvölker, die mit einer animistischen Weltsicht leben: Da leben Steine, es gibt "Bruder Bär" und insgesamt eine innige Beziehung zu Mutter Natur. (Elisabeth Ruckser, CURE, 24.8.2021)