Der Fotograf Stephen Shore begann seine Karriere in Andy Warhols Factory: Das merkt man seinen Alltags- und Architekturfotos der 1970er-Jahre auch an.

Foto: Stephen Shore, Courtesy 303 Gallery

Es geht um die Farbe. Leuchtend rot ist sie, doch so ganz wird die Bezeichnung diesem intensiven Farbton nicht gerecht, in die William Eggleston seine berühmte Aufnahme getaucht hat. Mittig prangt auf dem titellosen Foto eine Glühbirne, darunter sieht man Teile eines Plakats mit Sexstellungen. Die US-Kultband Big Star verwendete das Foto für ihr 1974 erschienenes Album Radio City. Doch als Eggleston seine Fotoaufnahmen 1976 im New Yorker Moma präsentierten durfte, da gingen die Wogen hoch. Farbfotos galten als nicht museumswürdig, zu sehr erinnerten sie an Werbefotografie.

Die Empörung über die vermeintlich billige (und durch das Dye-Transfer-Verfahren intensiver wirkende) Farbfotografie ging einher mit einem Aufschrei über die Bildmotive, die Eggleston und eine Reihe amerikanischer Fotografen in den späten 1960er und 1970er in den Mittelpunkt rückten: Shoppingmalls und Drive-ins, Gebrauchsgegenstände oder Swingerclubs. Sujets, die gemeinhin als nicht fotowürdig galten und die dennoch einen Hauptteil der kommenden Dienstag eröffnenden Ausstellung American Photography im Untergeschoß der Albertina ausmachen.

Das Ephemere im Mittelpunkt

Nicht das Schöne und Erhabene oder die Reichen und Berühmten stehen im Vordergrund, sondern das Ephemere und die sozial Deklassierten. Die Geschichte der US-amerikanischen Fotografie (zwischen den 1930er- und 2000er-Jahren) erzählt die von Walter Moser unter Rückgriff auf die Fotosammlung der Albertina und jene des amerikanischen Botschafters Trevor D. Traina fein kuratierte Schau als eine des Perspektivenwechsels.

Selbst wenn eine Berühmtheit wie die Modekoryphäe Mrs. T. Charlton Henry mit ihrer fünfreihigen Perlenkette fotografiert wird, ist das ein Bild, das eher an eine Karikatur als an ein Porträt erinnert. Diane Arbus hat die Aufnahme der Geschmacksrichterin gemacht, und damit eines jener Porträts geschossen, die in ihrer Wahrhaftigkeit wie Unverschämtheit gleichermaßen wegweisend werden sollten. Dabei geht die Revolution der Porträtfotografie gar nicht auf Arbus zurück: Die berühmte Fotografin hatte bei Lisette Model gelernt, einer Wienerin, die 1938 nach New York emigrierte und zu einer Schlüsselfigur der dortigen Kunstszene wurde. Mit ihrer Plattenkamera porträtierte Model die feine Gesellschaft aus der Hüftperspektive, was wenig schmeichelhaft, dafür aber umso demaskierender war. Da blickte jemand hinter die Fassade einer Gesellschaft, die es sich in ihren Errungenschaften bequem gemacht hatte. Nichts anderes hatte bereits in den 1930er-Jahren der Fotograf Walker Evans gemacht, der die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Lebensbedingungen der Farmer festhielt.

Gebürtig in Wien, wurde Lisette Model zu einer Schlüsselfigur der New Yorker Kunstszene in den 1940er-Jahren.
Foto: 2021 Estate of Lisette Model

Auf Evans geht der Topos der sozialen Landschaft zurück, der in der US-Fotografie eine ungemein starke Wirkmacht entfaltete. Den Schatten einzufangen macht wohl nur dann Sinn, wenn es auch viel Glanz gibt. Doch der war medial sowieso allgegenwärtig, weshalb ein Fotograf wie Robert Frank nicht den Mythos der unbegrenzten Freiheit an der Route 66 einfing, sondern den einsam an der berühmten Straße liegenden Verkehrstoten.

Mit seinem subjektiven Blick und seiner Werkgruppe The Americans schrieb sich Frank in die Ikonografie des von Rassismus, Religion und Konsumkultur geprägten Landes ein. Gemeinsam mit Kollegen wie Garry Winogrand, der sich für die mediale Vermittlung des Zeitgeschehens interessierte, oder Lee Friedlander, der Fotografie wie ein Vexierspiel betrieb, ging es ihm darum, eine weniger repräsentative, dafür vielleicht wahrhaftigere Wirklichkeit einzufangen.

Nan Goldin fing in den 1990er-Jahren die amerikanische Subkultur ein.
Foto: Nan Goldin, Maria Goodmann Gallery


Mit dem Wohlstand änderte sich das Erscheinungsbild der amerikanischen Mittelschicht. Statt entlegener Farmen und der wilden Rockys rückten die Suburbs und müde blinkende Billboards in den Mittelpunkt. Und mit ihnen jene Seiten des Landes, deren Bilder eine Nan Goldin oder einen Philip-Lorca diCorcia bekanntmachten. Ihre Stricher an der Bushaltestelle oder Aidskranken im Sterbebett stellen den Schlusspunkt einer Ausstellung dar, bei der man natürlich viel über Auslassungen sprechen könnte. Viel spannender ist es aber, sich auf die Fährte dieser gleichsam narrativen wie ästhetisch funkelnden Schau zu machen (Stephan Hilpold, 21.8.2021)