Ein Forschungsteam der Polarstern bei der Arbeit auf dem Weg zum Nordpol: Während der aufwendigsten Arktisexpedition aller Zeiten zeigte sich, wie zerbrechlich das Meereis ist. Es fängt immer früher im Jahr an zu schmelzen, Schmelztümpel überziehen die Oberfläche.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Steffen Graupner

Ein ganzes Jahr lang driftete der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern durch das Nordpolarmeer – festgefroren an einer riesigen Eisscholle. Mehrere Monate lang war Stefanie Arndt als Leiterin des internationalen Meereis-Teams an Bord. Das Ziel der Mosaic-Mission: anhand der Entwicklung des Polareises bisher unerreichte Einblicke in das Klimasystem der Arktis zu bekommen.

STANDARD: Sie forschen auf Eisschollen in der Arktis und der Antarktis, verbringen bei Ihren Polarexpeditionen oft Wochen und Monate auf einem Eisbrecher oder auf einer Forschungsstation. Was ist Ihre Beziehung zu dem Wasser, das Sie hier ständig umgibt?

Stefanie Arndt: Ich freue mich nicht so sehr über offene Wasserflächen, da sie uns vor allem in der Arktis deutlich den Klimawandel vor Augen führen. Wenn ich in der Antarktis forsche, fasziniert mich der weiße, gefrorene Ozean. Es ist für mich ein ganz besonderes Gefühl, wenn ich auf so einer Eisscholle sitze und mir vorstelle, wo auf dem Globus ich mich gerade befinde: über viele Tausend Kilometer in alle Himmelsrichtungen nur von Wasser umgeben. Nicht selten trennt mich nur ein halber Meter Eis von 3000 bis 4000 Kilometern Wasser unter mir. Das vermittelt mir die Einsamkeit in diesem Moment, strahlt aber auch eine besondere Magie aus.

Stefanie Arndt war mehrere Monate als Leiterin des internationalen Meereis-Teams an Bord des Forschungseisbrechers.
Foto: privat

STANDARD: Bei Ihren Expeditionen arbeiten Sie unter Extrembedingungen, bei Eiseskälte und Isolation – wie abenteuerlich oder auch anstrengend kann man sich das vorstellen?

Arndt: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es ist kein Abenteuer! Ich habe bis jetzt an zehn schiffsgestützten Expeditionen teilgenommen und habe dennoch immer diesen Entdeckerdrang. Man kann sich nicht auf alles vorbereiten, da jede Expedition neue Herausforderungen mit sich bringt. Das macht es so spannend.

STANDARD: Im vergangenen Jahr waren Sie im Zuge der Mosaic-Mission monatelang im Eis unterwegs, um die Veränderungen des arktischen Polareises zu erforschen. Die Erwärmung der Arktis steht ja in direktem Zusammenhang mit zunehmenden Extremwetterereignissen auch in unseren Breiten. Inwieweit konnten Sie diese Klimaveränderungen vor Ort feststellen?

Arndt: Wir beobachten seit Jahren mit Satellitendaten, wie sich das arktische Eis zurückzieht, wie vor allem die Sommerausdehnung der arktischen Meereisfläche immer kleiner wird. Auf der Mosaic-Expedition haben die Messungen gezeigt, dass das Meereis dünner und dynamischer wird. Weil die Fläche, die mit Meereis bedeckt ist, immer kleiner wird, kann der Ozean mehr Wärme aufnehmen, wodurch sich das Meereis immer später im Jahr bildet und dadurch dünner wird. Infolgedessen wird es anfälliger etwa für Winde und bewegt sich schneller. Das haben wir sehr deutlich gespürt. Wir waren unfassbar schnell unterwegs mit der Scholle. Dazu kommt, dass das Eis leichter aufbricht und sich Rinnen und Eisrücken bilden. Das hat uns die Zerbrechlichkeit des arktischen Meereises aufgrund des anhaltenden Klimawandels deutlich gemacht.

Das "ewige" Eis an den Polen ist alles andere als ewig. Messungen der Mosaic-Expedition haben gezeigt, dass das arktische Meereis immer dünner wird. Das Eis bricht leichter auf, es bilden sich vermehrt Rinnen.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Michael Gutsche

STANDARD: Sie beschäftigen sich insbesondere mit den Übergängen zwischen Eis und Wasser, zwischen Schnee und Atmosphäre. Was genau passiert hier, und warum ist das entscheidend, was auf einer Eisscholle am Ende der Welt passiert?

Arndt: Vor allem die Schneeauflage auf dem Eis ist eine entscheidende Komponente, denn sie bestimmt die Farbe des Meereises. Wenn wir keine Schneeauflage haben, werden etwa 70 Prozent der Sonneneinstrahlung zurückgestrahlt, mit Schnee sind es etwa 90 Prozent. Durch die Schneeauflage werden Eis und Ozean kalt gehalten. In Zeiten des Klimawandels verfärbt sich das Schneeweiß durch Schmelze immer früher im Jahr in Schneegrau, sodass der Kühlungseffekt schwächer wird. Dadurch wärmt sich nicht nur das Meereis auf, es wird früher oder später auch mehr Energie in den oberen Ozean transportiert, was dazu führt, dass sich auch die Atmosphäre erwärmt. Und das bekommen wir global zu spüren.

Besuch bekamen die Forscherinnen und Forscher kaum, diese Eisbärin und ihr etwa sechs Monate altes Junges waren eine Ausnahme.
Foto: rbb / AWI / Esther Horvath

STANDARD: Wie nah sind wir hier an einem sogenannten Kipppunkt?

Arndt: Wir haben in den vergangenen Jahren beobachtet, dass das Eis immer früher im Jahr anfängt zu schmelzen. Zusätzlich wird die Fläche immer kleiner. Das ist eine sogenannte positive Rückkoppelung, das heißt, diese Effekte verstärken sich gegenseitig. Wir sind uns mittlerweile relativ sicher, dass wir diesen Kipppunkt bereits überschritten haben, sprich wir erwarten, dass wir in den nächsten Jahren eine immer stärkere Abnahme des arktischen Meereises beobachten werden und in nicht allzuferner Zukunft darauf zusteuern, dass es im Sommer gar kein Meereis in der Arktis geben wird. Wir können diese Prozesse vielleicht noch abbremsen, wir sehen aber im Moment keine Möglichkeit, dass dieser Prozess umgekehrt werden kann.

STANDARD: Noch öfter als in der Arktis waren Sie in der Antarktis, zuletzt im vergangenen Frühjahr. Was ist hier der Forschungsfokus?

Arndt: In der Antarktis ist das primäre Forschungsgebiet des AWI das Weddellmeer, ein Seitenmeer des Südozeans. Im Gegensatz zur Arktis, wo der Pol mit Meereis bedeckt und von Landmassen umgeben ist, liegt in der Antarktis in der Mitte der Kontinent mit einem großen Eispanzer, und rundherum ist das Meereis. Bei unserer Forschung geht es aktuell um die Wechselwirkung zwischen Schelfeis, Ozean, Meereis und Atmosphäre. Die Ergebnisse zeigen, dass die Eisdicke und die Schneehöhe in den vergangenen 30 Jahren konstant geblieben sind. Im Vergleich zur Arktis ist das Meereis hier noch nicht so sensibel gegenüber der globalen Erwärmung.

Die Mosaic-Mission war eine Expedition der Extreme: Bei Temperaturen von bis zu minus 45 Grad und 150 Tagen Dunkelheit in der Polarnacht verbrachten insgesamt knapp 500 Forscherinnen und Forscher ein Jahr in der Arktis – bis zu 1000 Kilometer entfernt vom Festland.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Stefan Hendricks

STANDARD: Sie haben sich auf die Rolle der Schneedecke auf dem Meereis spezialisiert. Was erzählt Ihnen der Schnee?

Arndt: An jedem Schneekristall lässt sich erkennen, was er so erlebt hat in den letzten Wochen und Monaten. Ich buddel also Löcher in den Schnee und sehe mir unterschiedliche Schichtungen an in Hinblick auf Schneekorngröße, Dichte und Feuchte. Diese Eigenschaften bestimmen, wie viel Energie zurückgestrahlt wird, aber auch die Interaktionen zwischen Meereis und Schnee. In der Antarktis gibt es eine sehr dicke Schneeschicht, das bedeutet, dass der Schnee regelmäßig in Eis umgewandelt wird, weil er mit dem Ozean in Berührung kommt – er ist so schwer, dass er das Eis unter die Wasserfläche drückt. So kann das antarktische Meereis von oben wachsen.

STANDARD: Wenn Sie wieder auf dem Trockenen sitzen und Zeit zum Planen haben – was sind dann Ihre Wünsche für die Zukunft?

Arndt: Ich wünsche mir analog zur Mosaic-Mission, wo wir für ein gesamtes Jahr das arktische Meer beproben konnten, ein vergleichbares Projekt in der Antarktis. Zunächst planen wir kleinere Driftstationen im Südozean, um auch hier den Veränderungen des Meereissystems und seinen Wechselwirkungen mit Ozean und Atmosphäre auf die Spur zu kommen, über die Jahreszeiten hinweg und auch im Vergleich mit vor 20, 30 Jahren. Für mich persönlich wünsche ich mir als Jungwissenschafterin, dass ich überhaupt in der Wissenschaft bleiben kann – wir sind ja alle nur befristet angestellt. (Karin Krichmayr, Magazin FORSCHUNG, 14.9.2021)