Die EU sollte bei Verhandlungen zwischen politischen Parteien und Taliban eine vermittelnde Rolle einnehmen, sagt der Außenpolitikexperte Mirwais Wakil im Gastkommentar.

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Nur wenigen Afghaninnen und Afghanen wird geholfen. Viele, die sich für die Demokratie im Land eingesetzt haben, warten vergeblich auf Hilfe.
Foto: AP / Bundeswehr

Afghaninnen und Afghanen sind mittlerweile traurige Meister darin, ihr reges Sozialleben, das in der Kultur einen hohen Stellenwert einnimmt, trotz bewaffneter Konflikte aufrechtzuerhalten. Auch wenn viele der Menschen in den großen Städten, die etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung beherbergen, nach wie vor große Angst vor den Taliban haben – in Afghanistan wird wieder so etwas wie Alltag zurückkehren.

Bereits vor der "offiziellen Übernahme" waren – konträr zu dem Eindruck, der in der westlichen Presse entsteht – große Teile des Landes unter Taliban’scher Kontrolle. Das bedeutet, dass die Übernahme der Taliban für große Teile der Bevölkerung keine Umstellung oder Anpassung bedeutet. Das, was sich jedoch für alle Afghaninnen und Afghanen geändert hat, ist die bislang stabile Sicherheitslage. Das heißt: keine Bombenexplosionen, keine Drohnenangriffe, kein Geruch von verbranntem Fleisch. Sie würden sich wundern, wie sehr einem dieser Geruch in Erinnerung bleibt.

Im kollektiven Gedächtnis

Was auch allen Afghaninnen und Afghanen in Erinnerung bleibt, ist, dass die Taliban während ihrer letzten "Übernahme" 1996 bis 2001 die schiitische Minderheit der Hazara gejagt, ermordet und massakriert haben. Zwar haben die Taliban ihre Rhetorik geändert und präsentieren sich vergleichsweise milde, jedoch hat das kollektive Gedächtnis nicht vergessen, wozu sie fähig sein können. Dazu kommt, dass sich Berichte von außergerichtlichen Tötungen und Zwangsverheiratungen von Mädchen häufen.

Nach wie vor spielen sich dramatische Szenen am Flughafen in Kabul ab. Viele jener, die gerade dem Land entfliehen möchten, sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NGOs, internationalen Organisationen, Botschaften oder den Nato-Militären zugehörig. Es scheint, dass unter anderem die USA, EU-Staaten und Kanada schnelle und unkomplizierte Evakuierungen vornehmen. Eine besonders vulnerable Gruppe – (ehemalige) Zugehörige der afghanischen Regierung, die sich für die junge Demokratie Afghanistan eingesetzt haben– wartet jedoch vergebens auf Hilfe.

Ein Beispiel ist eine – nun ehemalige – Richterin, mit der ich vor kurzem am Telefon gesprochen habe. Da im Koran keine – weiblichen – Richterinnen existieren, ist sie aufgrund ihrer ehemaligen Arbeit in Gefahr. Es bricht mir das Herz, zu wissen, dass es diese Menschen nicht aus eigener Kraft aus Afghanistan rausschaffen.

Was tun?

Manche EU-Staaten haben sich dazu entschlossen, ihre afghanischen Kolleginnen und Kollegen aus NGOs, Nato-Militär und Botschaften zu evakuieren. Eine lobenswerte Strategie. Jedoch sollte auch vor Augen gehalten werden, dass diese Menschen nur eine verschwindend kleine Untergruppe der afghanischen Bevölkerung darstellen. Was mit dem Rest der Flüchtenden passiert, bleibt offen. Ich halte es für eine schlechte Strategie, sich in der Politik nur auf Fluchtstrategien und Asylmöglichkeiten zu konzentrieren. Kein Land, keine Bevölkerung der Welt sollte – fernab von Pragmatismus – genötigt werden, eine ganze Nation, die im Falle Afghanistans mehr als 40 Millionen Menschen umfasst, willkommen zu heißen.

Was kann die EU also tun, um nach ihrem Abzug ein Desaster zu verhindern?

Da Afghanistan ein vom Westen finanziell abhängiges Land ist und sich die Taliban politisch bislang offen und kooperativ präsentieren, sollte die EU eine aktive, vermittelnde Rolle einnehmen und ein adäquates Abkommen ausverhandeln. Am Tisch sitzen sollten alle politischen Parteien Afghanistans und Vertreter für Frauen und Minderheiten. Die EU hat als stärkste diplomatische Kraft des Westens bereits gezeigt, was sie bewirken kann, indem sie den Deal zwischen dem Iran und den USA in die Wege geleitet hat.

In Kontakt treten

Nach den Szenen am Kabuler Flughafen fragen sich nun sicher einige Mitbürgerinnen und Mitbürger, was sie tun können, um Afghaninnen und Afghanen in Österreich zu unterstützen. Die beste Option ist sicher der gute, alte persönliche Kontakt.

Gehen Sie doch mit Ihrem Kollegen oder Ihrer Nachbarin auf einen Kaffee oder Tee. Austro-Afghaninnen und -Afghanen sind es nämlich nicht gewohnt, von der autochthon-österreichisch weißen Bevölkerung angesprochen zu werden. Das negative Image von Afghaninnen und Afghanen, das besonders im Boulevard propagiert wird, hält sich nach wie vor wacker – auch wenn die Zahlen am Arbeitsmarkt erfreulich sind und für aktive Eingliederungsbemühungen in die österreichische Gesellschaft vonseiten der Afghaninnen und Afghanen spricht. Übrigens: Wir wissen aus der soziologisch-psychologischen Forschung, dass sich Individuen das negative öffentliche Image "ihrer" Bevölkerungsgruppe zu Herzen nehmen. Sie glauben dieser Darstellung, verinnerlichen sie und identifizieren sich nach und nach damit. Jedoch kann jede und jeder Einzelne gegensteuern – immerhin steckt in jeder Krise bekanntlich auch eine Chance. (Mirwais Wakil, 21.8.2021)