Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan ist nicht nur eine herbe Schlappe für die Weltmacht USA. In Afghanistan ist der größte Versuch in "nation building", Nationenbildung durch eine Intervention von außen, der vergangenen Jahrzehnte gescheitert. Und dieses Versagen erschüttert eine der tragenden Säulen westlicher Außenpolitik und der Rolle der internationalen Staatengemeinschaft.

Es gibt unzählige Gründe, warum es die USA in 20 Jahren und mit zwei Billionen Dollar an Ausgaben nicht geschafft haben, ein stabiles Staatswesen in Afghanistan zu errichten, das dem Ansturm der Taliban standhalten konnte: falsche politische Konzepte, eine verfehlte Militärstrategie, das Versagen der afghanischen Eliten. Das Land am Hindukusch galt mit gutem Grund schon vor dem US-Einmarsch als Friedhof für Großmachtambitionen.

Es gibt unzählige Gründe, warum es die USA nicht geschafft haben, ein stabiles Staatswesen in Afghanistan zu errichten.
Foto: AFP

Aber Afghanistan ist kein Einzelfall. Nationenbildung mit militärischen und zivilen Mitteln hat auch im Irak und in Haiti nicht funktioniert. Sogar in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in Bosnien-Herzegowina, hat ein internationales Protektorat, oft geleitet von österreichischen Diplomaten, in 25 Jahren einen einst blutigen Konflikt zwar eingefroren, aber einer politischen Lösung nicht nähergebracht. Was nach 1945 unter ganz besonderen Umständen in Westdeutschland und Japan gelang, ist seither stets gescheitert.

Zwei Phänomene

Warum? Zwei Phänomene stehen jeder noch so wohlwollenden Einmischung von außen im Weg: Abhängigkeit und Nationalismus. Wenn eine externe Autorität – ob die USA, die Uno oder die EU – die Verantwortung für ein Staatswesen übernimmt, dann wird das zum Freibrief für lokale Gruppen, auf Kosten des Gemeinwesens ihre Eigeninteressen zu verfolgen. Und die Präsenz einer ausländischen Macht verstärkt nationalistische Gefühle und wird zunehmend als Unterdrückung wahrgenommen. So konnten sich die Taliban, die nur eine religiöse Ausrichtung und eine ethnische Gruppe vertreten, sich als Befreier von einer Fremdherrschaft inszenieren und breite Unterstützung gewinnen.

Doch wenn man auf Nationenbildung wegen Aussichtslosigkeit verzichten muss, dann wird jede Intervention in Krisenstaaten zum sinnlosen und sogar schädlichen Unterfangen; das hat etwa das Beispiel Libyen gezeigt. Die nach 1989 gewachsene Vorstellung, dass eine internationale Staatengemeinschaft globale Verantwortung trägt und weltweit gegen Unrecht vorgehen kann und muss, hat sich als liberale Illusion erwiesen.

Das gilt auch für nichtmilitärische Interventionen. Wirtschaftssanktionen stürzen keine Diktatoren, wie die Machthaber in Nordkorea oder Belarus beweisen. Und wo kein funktionierendes Gemeinwesen existiert, versandet jede Form der Wirtschaftshilfe oder landet in den Taschen gieriger Eliten.

Mit Nahrungs- und Flüchtlingshilfe kann man Menschenleben retten; mit militärischen Mitteln souveräne Staaten vor Aggressoren schützen. Aber darüber hinaus gibt es kaum Möglichkeiten, die von der Uno verkündete Schutzverantwortung (R2P) innerhalb von Staaten tatsächlich umzusetzen.

Afghanistan zeigt, dass auch in einem Jahrhundert globalisierter Wirtschaft und Werte Nationen Eigenverantwortung für ihr Schicksal tragen. Die Welt kann anklagen und protestieren, aber sonst viel weniger tun, als wir im Westen lange geglaubt haben. (Eric Frey, 20.8.2021)