Ursula von der Leyen bei der Militärbasis Militärbasis Torrejón de Ardoz.

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Am Flughafen von Kabul warten immer noch zahlreiche Menschen darauf das Land doch noch verlassen zu können.

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Im Gedränge am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul hat es einem Medienbericht zufolge mehrere Tote gegeben. Aufnahmen des britischen Fernsehsenders Sky News zeigten am Samstag, wie Soldaten mindestens drei Leichen mit weißer Plane abdeckten. Woran die Menschen starben, war zunächst unklar. Auch mehrere Verletzte waren zu sehen.

Der Sky-News-Reporter Stuart Ramsay, der selbst am Flughafen war, berichtete, im Gedränge seien mehrere Menschen "gequetscht" worden. Rettungskräfte eilten von einem Verletzten zum anderen. Ramsay sagte, die am Flughafen wartenden Menschen seien "dehydriert und in Panik". Er filmte auch Soldaten, die Wartende zur Abkühlung mit einem Wasserschlauch nass spritzten.

Vor einer Woche hatten die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen. Seitdem versuchen unzählige Menschen verzweifelt, das Land zu verlassen. Die Lage am Kabuler Flughafen spitzte sich zuletzt gefährlich zu. Am Samstag warteten bei starker Hitze weiter tausende Afghanen mit Ausreisepapieren auf Flüge. US-Soldaten hielten zugleich tausende Menschen ohne Papiere davon ab, auf das Flughafengelände zu gelangen.

Auch die Evakuierung von Menschen durch die deutsche Bundeswehr geriet ins Stocken geraten. Zwei am Samstag gestartete deutsche Flieger konnten nur sieben beziehungsweise acht Personen nach Usbekistan bringen, wie die Bundeswehr auf Twitter mitteilte. Bei einem späteren Bundeswehr-Transporter gingen dann wieder deutlich mehr Schutzbedürftige an Bord – er flog 205 Menschen aus dem von den militant-islamistischen Taliban eroberten Land aus. Der nächste Flieger am Abend hob allerdings mit gerade 20 Menschen ab. Die Lage in Kabul gestalte sich weiterhin schwierig, so die Bundeswehr.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte unterdessen alle Mitgliedsländer zur Aufnahme schutzbedürftiger Afghanen auf. Die EU-Kommission werde finanzielle Unterstützung für die Länder zur Verfügung stellen, die den Flüchtenden eine neue Heimat böten, sagte von der Leyen am Samstag beim Besuch eines Erstaufnahmelager für vor den Taliban geflohene afghanische Ortskräfte der EU in Spanien. Die USA wiederum wollen Hilfen für Afghanistan an "harte Bedingungen" knüpfen.

Die Kommissionspräsidentin besuchte zusammen mit EU-Ratspräsident Charles Michel und dem spanischen Regierungschef Pedro Sánchez (Sozialisten/PSOE) die Militärbasis Torrejón de Ardoz nahe Madrid. Auf dem Stützpunkt hat die spanische Luftwaffe ein Lager eingerichtet, das laut Sánchez bis zu 800 Menschen aufnehmen kann. Nach Angaben der Regierung in Madrid soll es als "logistisches Zentrum Europas" dienen, von dem aus "alle Afghanen, die für EU-Institutionen gearbeitet haben", in andere Staaten verteilt werden sollen.

Kontakt, kein Dialog mit Taliban

Von der Leyen stellte zudem klar, dass es derzeit zwar "operationelle Kontakte" zu den Taliban gebe, "um Leben zu retten". Es gebe aber keinen politischen Dialog und demzufolge auch "keinerlei Anerkennung der Taliban". Die radikalislamischen Kämpfer hatten vor einer Woche die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen, seitdem versuchen unzählige Menschen verzweifelt, das Land zu verlassen.

Die von der Kommission vorgesehene humanitäre Hilfe für Afghanistan in Höhe von 57 Mio. Euro solle außerdem zwar aufgestockt werden, sei aber an die Einhaltung von Menschenrechten und der Rechte von Minderheiten und Frauen gebunden, so von der Leyen. Zur humanitären Hilfe werde man in naher Zukunft einen Vorschlag unterbreiten. "Wir müssen helfen, das ist unsere Verantwortung."

Man müsse aber nicht nur den Ausgeflogenen helfen, "sondern auch denjenigen, die in Afghanistan geblieben sind", so von der Leyen. Es werde allerdings keine Mittel für die Taliban geben, wenn diese nicht die Menschenrechte respektieren sollten, sagte sie bezüglich der Entwicklungsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro, die für Afghanistan für die nächsten sieben Jahren vorgesehen sind.

Italien flog 1600 Afghanen aus

Laut dem spanischen Außenminister José Manuel Albares haben sich "fast alle EU-Staaten" bereit erklärt, Flüchtlinge aus dem Lager aufzunehmen. Die Afghanen sollen zunächst eine "befristete Einreiseerlaubnis" für Spanien erhalten, bevor ihnen von den verschiedenen Ländern, in denen sie sich niederlassen sollen, der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.

Das italienische Militär hat über seine Luftbrücke bisher mehr als 1600 Afghanen aus Kabul ausgeflogen. Das Verteidigungsministerium berichtete am Samstag von einem Flug mit knapp 200 afghanischen Staatsbürgern, der am Flughafen Fiumicino in Rom landete. In Rom kümmerte sich die Polizei nach eigenen Angaben mit Malbüchern und Stiften um einige Kinder, die dort wegen des Einreiseverfahrens warten mussten.

Biden stellt Bedingungen

US-Präsident Joe Biden erklärte unterdessen, er wolle die Taliban unter Druck setzen und Hilfen für Afghanistan während ihrer Herrschaft an "harte Bedingungen" knüpfen. So werde man genau verfolgen, wie die Islamisten ihre Landsleute und dabei speziell Frauen und Mädchen behandeln, sagte Biden am Freitag (Ortszeit) in einer Ansprache.

Die Taliban machen einem ihrer Repräsentanten zufolge Fortschritte bei der Bildung einer Regierung und einer Verbesserung der Sicherheitslage im ganzen Land. Mit früheren Verwaltungsmitarbeitern liefen Gespräche über die finanzielle Krise und eine Wiedereröffnung der Banken, sagt er der Nachrichtenagentur Reuters. Es werde zudem versucht, über das Wochenende die Lage am Flughafen von Kabul zu verbessern.

Der Flughafen in Kabul am Freitag.
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Rund um den Flughafen von Kabul herrschten indes weiter chaotische Zustände, die Lage ist extrem gefährlich. Wie schon in den Tagen zuvor belagerten Tausende Menschen den Flughafen in der Hoffnung, aus dem Krisenstaat fliehen zu können. Die afghanische zivile Luftfahrtbehörde rief dazu auf, nicht mehr zum Flughafen Kabul zu kommen. Es gebe weiter keine zivilen und kommerziellen Flüge, hieß es in einer am Samstag auf Facebook veröffentlichten Nachricht. Auch die US-Botschaft rief in einer Mitteilung dazu auf, den Flughafen aufgrund möglicher Sicherheitsbedrohungen zu meiden.

Die US-Streitkräfte haben seit Beginn der Evakuierungsmission in Afghanistan vor einer Woche nach eigenen Angaben insgesamt 17.000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Generalmajor William Taylor sagte am Samstag im Pentagon, in den 24 Stunden zuvor hätten die US-Streitkräfte insgesamt rund 3.800 Menschen evakuiert. Dafür seien sechs Flugzeuge der US-Luftwaffe und 32 Chartermaschinen eingesetzt worden. 5.800 US-Soldaten sicherten den Flughafen in der afghanischen Hauptstadt.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell machte die strengen Sicherheitsvorkehrungen des US-Militärs am Kabuler Flughafen mitverantwortlich für die dramatische Situation. Borrell sagte, die EU habe sich bei den USA über die strengen Sicherheitsvorkehrungen "beschwert". Afghanische Ortskräfte der EU, die das Land verlassen wollen, hätten Schwierigkeiten auf das Flughafengelände zu gelangen.

Merkel sprach mit Erdoğan

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel räumte indes ein, dass man die Widerstandskraft der afghanischen Armee falsch eingeschätzt habe. "Die Armee ist in atemberaubendem Tempo kollabiert", sagt Merkel beim Bundestags-Wahlkampfauftakt der Unionsparteien CDU/CSU. "Wir hatten die Widerstandskraft stärker eingeschätzt", fügt sie mit Blick auf die Debatte hinzu, ob die Regierung schneller hätte handeln müssen.

Auch Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sprach von einer massiven Fehleinschätzung angesichts des Vormarschs der Taliban in Afghanistan. "Noch zu Beginn der letzten Woche hat niemand in der internationalen Gemeinschaft damit gerechnet, dass Kabul bereits am Ende der Woche kampflos fallen würde", schrieb Kramp-Karrenbauer in einem Brief an Abgeordnete des Bundestags. "Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeiten und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand gegen die Taliban zu optimistisch."

Merkel (CDU) sprach am Samstag auch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan über die Lage in Afghanistan. Beide seien sich einig, dass die Evakuierung schutzbedürftiger Menschen höchste Priorität habe. Sie hätten zudem enge Zusammenarbeit bei der Unterstützung internationaler Organisationen vereinbart, insbesondere des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR, hieß es. Vor der Machtübernahme der Taliban wurde die Möglichkeit diskutiert, dass die Türkei auch nach dem Ende der NATO-Mission weiter mit Kräften vor Ort sein würde. Die Türkei hatte sich mehrmals dazu bereit erklärt. Die Taliban hatten das in der Vergangenheit jedoch abgelehnt.

Warnung vor Angstmache

Der österreichische Migrationsexperte Gerald Knaus warnt vor der derzeit in ganz Europa geschürten Angst vor Flüchtlingen aus Afghanistan. Knaus, Leiter der in Berlin ansässigen European Stability Initiative (ESI), sagte am Samstag im Ö1-"Morgenjournal". Die wirkliche Frage sei vielmehr, "wie kriegen wir Leute, die wir aufnehmen wollen, eigentlich heraus?".

Knaus betonte, dass die heutige Situation mit jener von 2015 nicht vergleichbar sei. Damals hätten Millionen von Menschen problemlos aus Syrien über die offene Grenze in die Türkei fliehen können, wo auch die allermeisten geblieben seien. Ein Teil lediglich habe sich via Ägäis eben auf den Weg nach Europa gemacht.

"Heute ist die Situation radikal anders", so Knaus in dem in voller Länge für das "Mittagsjournal" angekündigten Radio-Interview. "Die Menschen kommen aus Afghanistan – wie wir ja sehen auf den dramatischen Bildern aus Kabul sehen – nicht raus." Die radikal-islamischen Taliban kontrollierten Land und Grenzen, und auch die Nachbarländer und die Türkei hätten angekündigt, ihre entsprechenden Grenzen zu schließen, so der Migrationsexperte.

Ähnliche Aussagen machten in den vergangenen Tagen unter anderem der österreichische Sicherheitsexperte und Ex-Bundesheerbrigadier Walter Feichtinger sowie der deutsche Migrationsforscher Steffen Angenendt. (APA, 21.8.2021)