Der Einheit von Zeit, Ort und Handlung ein Schnippchen schlagen: Michael Köhlmeier schickt seinen in Frankreich geborenen tierischen Helden Matou durch unterschiedlichste Zeiten und Räume.

Foto: Heribert Corn

Michael Köhlmeier ist bekannt dafür, dass er vor kritischen Interventionen ins politische Geschehen nicht zurückscheut (zuletzt: als Unterzeichner einer Protestnote an die Grünen wegen deren Unterstützung des neuen ORF-Direktors Weißmann). In Köhlmeiers neuem Roman Matou halten sich einschlägige Passagen in engen Grenzen: von einem Innenminister, der irgendwie bekannt wirkt, ist einmal die Rede oder von einem Abgeordneten, der sich zu Versuchszwecken sicherheitshalber tasern lässt. Ansonsten umgeht der Katzenkenner Köhlmeier (vgl. das Gespräch mit ihm im ALBUM vom 14./15. August) das austropolitische Kleinklein und konzentriert sich vielmehr auf große historische Verlaufslinien des Westens, die er aus kätzischer Sicht schildert und mit der Französischen Revolution einsetzen lässt.

Umfassender Lebenslauf

Auf der ausgiebigen Strecke von 960 Seiten durchläuft der titelgebende Kater Matou katzentypisch sieben Leben, die nach jedem einzelnen Abkratzen – ein unschönes Wort für den menschlichen Tod, für jenen von Katzen vielleicht eher passend – von Intermezzi in einem Jenseits gefolgt werden, das Köhlmeier "Weggemachtes" nennt. Darin verbirgt sich eine Anspielung auf ein Frühwerk des Schriftstellers, die vermutlich nur intime Kenner seines Œuvres entschlüsseln werden. Die Stationen von Matous Jahrhunderte umfassendem Lebenslauf sind nach Frankreich Berlin zur Zeit der Hochromantik, mit einem langen Gastauftritt von E. T. A. Hoffmann und seinen Serapionsbrüdern, die Katzeninsel Hydra, der Kongo unter belgischer Kolonialherrschaft, das Prag Franz Kafkas, das New York von Andy Warhol sowie das Wien der unmittelbaren Gegenwart. Hier betätigt sich Matou in den vertrackten Liebeshändeln des jungen Daniel als Beobachter, Chronist, Ratgeber und Vermittler.

Die organisch wirkende Konstruktion des Romans gliedert ihn in sieben Teilstrecken mit überschaubarer Länge, und sie erlaubt es dem Autor, ohne große narrative Begründungen nonchalant durch unterschiedlichste Zeiten und Räume zu streifen und seinen Protagonisten in Abenteuer mit einer Vielzahl diverser Figuren zu verwickeln, welche manchmal nur peripher oder gar nichts miteinander zu tun haben. Der Einheit von Zeit, Ort und Handlung, für den Roman ohnehin keine zwingende poetische Vorschrift, wird lustvoll ein buchlanges Schnippchen geschlagen.

Partner im Unverstandensein

Hauptcharakterzug des in Ich-Form erzählenden Katers ist seine exorbitante Wissbegierde, die sich über die Artenschranke hinweg bevorzugt auf das Wesen des Menschen richtet, wobei die vielen Teilerkenntnisse, die er bei dieser Reflexionsarbeit gewinnt ("Ihr Menschen könnt so tun, als ob ihr liebt"), sich zu keinem abschließenden Urteil fügen wollen: Die Natur des Homo sapiens bleibt letztlich so unergründlich wie die der Katze. Im Unverstandensein sind Mensch und Kater Partner. Und auch in der Grausamkeit, daran lassen Matous Abenteuer keinen Zweifel. Wo der belgische König Leopold II. im Kongo, der damals sein Privatbesitz war, in großem Stil Hände abhacken, massakrieren und foltern lässt, kennt auch Matou ungeachtet seiner intellektuellen Kapazitäten keine Skrupel, wenn er seine Beutestücke zum eigenen Lustgewinn nach allen Regeln der Vernichtungskunst langsam zu Tode malträtiert.

Köhlmeier häuft in Matou über das Medium seines kätzischen Autodidakten Unmengen an Material über Gott und die Welt an, natürlich in erster Linie solches über Katzen und Menschen. Reflexionen, Sentenzen, literarische Anspielungen, Gedichte, Sprichwörter, Katzen-Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung oder der Veterinärmedizin, Verweise auf Märchen und Mythen, Leselisten, Zitate und unterschiedlichste sonstige Fundstücke aller Art: Gott hat Katzen nur erschaffen, heißt es bei Victor Hugo, damit der Mensch einen Tiger streicheln kann.

Ausufernlassen der Erzählflüsse

Bei dieser literarischen Vorgangsweise lassen sich gelegentliche Redundanzen vermutlich nicht vermeiden, und die gibt es auch in Matou. Dennoch erschiene der Ratschlag an den Autor, dass weniger mehr gewesen wäre, verfehlt: Es ist gerade die unverhohlene Freude von Matous Schöpfer am Schwelgen, am Überborden, am Ausufernlassen der Erzählflüsse, die sich auf den Leser überträgt und Matou seinen ansehnlichen Charme verleiht. Der Gefahr, dass Matou zu einer bloßen Ansammlung unverbundener Trouvaillen gerät, hat Köhlmeier konsequent vorgebeugt, indem er sein Material immer wieder konsequent mit verbindenden narrativen Strukturen zusammenhält.

Die Grundidee, den Roman in kleinere Einheiten zu portionieren, lädt zwangsläufig zum Vergleich derselben ein, und nicht allen wird jede gleichermaßen behagen. Beim Rezensenten hinterließen die Hydra- oder Pragpassagen nachträglich einen weniger starken Eindruck als die fulminanten Auftaktkapitel in Frankreich und Deutschland oder Matous Lebensgeschichte als Warhols Schoßkater, wo sein Autor als ausgewiesener Amerikaliebhaber in die Vollen geht. Das Ganze ist aber auch in diesem Buch definitiv mehr als die Summe seiner Teile, und wer sich auf die Langstrecke einlässt, dem schenkt Köhlmeier ein außergewöhnliches, opulentes Lesevergnügen. (Christoph Winder, 23.8.2021)