Lew Rubinstein füllt nicht nur Karteikarten mit Poesie, sondern schreibt auch an gegen Putins Herrschaft.

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Ein ganzjähriger Kalender reicht kaum aus, um alle Helden der russischen Geschichte vollständig aufzuzählen. Der Moskauer Autor, Putin-Kritiker und Konzeptartist Lew Rubinstein (73), Autor von Ein ganzes Jahr. Mein Kalender, stellt sich einer ganz besonderen Herausforderung. Er entwendet den Kalender. Und macht sich die Abrisszettel, geschmückt mit Einträgen aus der Chronik der Ereignisse, nacheinander untertan.

Welcher russophile Mensch würde zum Beispiel folgende Information nicht anteilnehmend lesen? "19. Mai 1922: Gründung der ersten Pionierorganisation, die ab 1926 Lenin-Pionierverband heißt". Rubinsteins hinzugefügte Kalendergeschichte umfasst zehn Zeilen. Sie beginnt mit: "Mein Vater war sein ganzes Leben lang stolz darauf, dass er einer der ersten Pioniere war …"

Was zunächst wie Sowjet-Nostalgie aussieht, wie hausbackenes Alltagsglück, gewinnt rasch an Fantastik. Papa, der frischgebackene Pionier, fuhr nach Ablegung des Fahneneids auf dem Roten Platz schnurstracks mit der Tram nach Hause in die Moskauer Vorstadt. "Und in derselben Bahn fuhren auch Trotzki und Kalinin." Absatz. "Ich weiß nicht, ob das stimmt. Und werde es nun auch nicht mehr erfahren."

Wir Leser auch nicht. Wir fassen Rubinsteins Schelmenstück vielleicht als Aufschneiderei auf. Oder aber als Wiederaneignung einer Chronologie, die wegen gewisser Eigenarten der russischen Zeitrechnung eine doppelte oder gleich mehrfache Buchführung nahelegt.

Rubinsteins Kalenderprosa überwölbt nicht etwa die Weltzeit. Die ist notorisch vollgestopft mit Denkwürdigkeiten, mit Pfauenradschlägen großer und kleinerer Helden. Von denen sich einige als Verbrecher entpuppten. Als "verdiente Massenmörder des Volkes" (Stalin), als Verwalter des sozialistischen Mangels. Denn gefehlt hatte es in Sowjetzeiten – von 1917 bis 1991 – stets; an allem und an allen Ecken und Enden.

Am "5. Mai 1818" wurde Karl Marx geboren: der "deutsche Philosoph, Ökonom und Soziologe", dessentwegen u. a. die sowjetische Zeitrechnung auf den gregorianischen Kalender umgestellt wurde. Ein gewaltiges Loch wurde dadurch in das Kontinuum der Zeitläufte und Lebensläufe gerissen. Der 1. Februar 1918 wurde von den Volkskommissaren prompt zum 15. Februar erklärt. Womit es sich ergab, dass der Feiertag der Oktoberrevolution ausgerechnet im November lag.

Keller voller Brennstoff

Rubinstein konterkariert Marx’ Geburtstag mit einer Beobachtung. "Die Verkaufsstelle für Kerosin befand sich in einer Anlage, die einer Erdhütte ähnelte …" In diesen Keller stieg hinab, wer Brennstoff haben wollte. Hinterm Ladentisch sei ein alter Jude gesessen "mit einem sehr traurigen Gesicht". In seinem Rücken hing, auffällig verschmutzt, ein Marx-Porträt. "Warum Karl Marx?"

Mit dieser in aller Unschuld gestellten Frage endet die hinterfotzige Kalendergeschichte. Sie enthält alle Elemente der Sinngebung: die Lage des Ladens im Souterrain; den Treibstoff, Sinnbild des Fortschritts. Mit der Verdoppelung der jüdischen Identität, der bewussten Hängung des Bildes in das Bild, erzwingt der Autor Besinnung. Und erinnert an die antisemitischen Kampagnen Stalins. An den Terror, der sich mit Vehemenz gegen jüdische Sowjetbürger richtete.

Rubinstein, der gelernte Bibliograf am Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut, arbeitete einst mit beschrifteten Karteikarten. Diese Textbausteine verband er zu Sequenzen, die sich in immer neuen Kartenfolgen anordnen ließen – wobei die durchgehende Nummerierung ein Spiel des bloßen Zufalls verhindern half. Der kalendarische Jahreszyklus stellt jetzt etwas wie sein Opus summum dar. Bevölkert werden diese Miniaturen von harmlosen Bürgern; Bewohnern von Kommunalwohnungen, die, durch die treuherzigen Augen Lews betrachtet, um ihren Stolz, ihre Würde, ihre leibliche Sättigung ringen.

Eine "Geschichte Russlands von unten" also, von der Berliner Friedenauer Presse kostbar verpackt, erzählt von einem gewitzten Causeur. Der als Sozialaktivist gegen die Übermacht des Kremls mobil macht. Und zur "Wiedereinführung der Todesstrafe" 1950 in der SU anmerkt: "Ja ja … Anscheinend glaubten sie, dass es nach dem Krieg noch zu viele Überlebende gebe. Ich war schon fast drei Jahre alt." (Ronald Pohl, 24.8.2021)