Bobbie Gentry, heute 79, toppte 1967 mit der düsteren Country-Ballade "Ode To Billie Joe" die Popcharts. Das hat diese für immer verändert. Der Sampler "Choctaw Ridge" erinnert an diese Zäsur im Pop.

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Im Jahr 1967 gewöhnten sich die USA langsam daran, dass schwarze Musik die Popcharts okkupierte und nicht nur die für sie reservierten R-'n'-B-Charts. Schließlich arbeitete vor allem das in Detroit ansässige Label Motown von Berry Gordy mit strategischer Präzision an dieser Mission. Im selben Jahr brach noch ein Damm: Countrymusic bahnte sich erstmals den Weg an die Spitze der Popcharts.

Es war die damals 25-jährige, aus Mississippi stammende Bobbie Gentry, die mit Ode To Billie Joe Kaliber wie die Beatles, die Doors oder die Rolling Stones auf die Plätze verräumte. Mit Hinterwäldlermusik! Mit einem Song, der ein wenig hedonistisches Thema behandelt: den Suizid des Billie Joe, der sich von der Tallahatchie Bridge stürzt. Und wie seine dysfunktionale Familie daran endgültig zerbricht.

Bobbie Gentry - Topic

Der eben erschienene Sampler Choctaw Ridge – New Fables of the American South 1968–1973 versammelt zwei Dutzend Songs, die Satelliten von Gentrys Erfolg waren. Ode To Billie Joe veränderte die Charts für immer. Selbst Bob Dylan, der gerade oben in Woodstock mit The Band jammte, hielt inne und reagierte auf Ode To Billie Joe mit der Parodie Clothes Line Saga – nicht der beste Moment des Meisters.

New Hollywood als Song

Countrymusic veränderte sich damals auch innerhalb des Genres. Es tauchten die Country Outlaws auf, die der Gegenkultur genauso zugetan waren wie jener der Hillbillys, deren Kathedrale in Nashville steht. Anders als bei den im Pop üblichen Boy-meets-Girl-Geschichten ging es im Country immer schon rustikaler und schattseitiger zu, doch blieb diese Musik aus den bis heute hochnäsig als "Fly-over-States" genannten Regionen in den ihr zugewiesenen Country-Charts.

Lee Hazlewood - Topic

Doch der Krieg in Vietnam und die Bürgerrechtsbewegung veränderten die Popkultur. Das klassische Hollywoodkino wich New Hollywood, das Figuren in den Mittelpunkt rückte, denen bis dahin keine Hauptrolle zugestanden worden war – und wenn, dann nur innerhalb bestehender Klischees: Sonderlinge, Streuner, Kleinkriminelle, "gefallene" Frauen, Typen, die die Schnauze voll haben.

Schas am Wald

Viele der Songs auf Choctaw Ridge klingen wie Exposés von Drehbüchern für Filme aus jener Ära. Songs über die "Hometown" waren nun nicht mehr verklärte Balladen, die stolzgeschwellten Männerbrüsten entwichen, es waren Abrechnungen. Unsentimentale, der Bigotterie entsagende Geschichten über den Alltag in Schas am Wald, Alabama, und Hintertupfing, Ohio.

Jerry Reed ist in Endless Milesof Highway auf einer Flucht, die nichts bringt. Sein gebrochenes Herz ist ja doch immer mit dabei. Lee Hazlewood durchstreift im House Song ein verlassenes Heim und memoriert die Tage, als darin noch eine Familie lebte. Dolly Parton ist in Down From Dover eine unehelich schwanger gewordene Frau, die vergeblich hofft, dass der Kindsvater auftaucht: Erst eine Totgeburt macht ihr klar, der kehrt nie wieder.

Todessehnsucht

Jim Ford rechnet mit der Familie in Harlan County ab, wo er schon als Kind nach Kohle buddeln musste. Tony Joe White wundert sich in Widow Wimberley, wo diese Frau ihr Lächeln hernimmt, wo sie doch von allen verlassen wurde. Und Charlie Rich stimmt Feel Like Goin’ Home an, ein todessehnsüchtiges Gospel von spiritueller Erhabenheit.

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In diesen Liedern befinden sich Elemente von Blues und Soul, manche driften mit Streichern an den Rand des Kitschs. Andere sind so karg arrangiert, wie es Jim Fords Kindheit gewesen sein muss.

Mysteriös

Allen gemeinsam ist, dass sie kaum verklausuliert sind. Es gilt "Tell it like it is": Sag, wie es ist. Das erklärt, warum wenige der auf Choctaw versammelten Lieder große Hits waren. Pop will ja Zerstreuung bringen, Unglück hat man selbst genug, da braucht man nicht noch das anderer.

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Und es erklärt zugleich die Erfolge des hier prominent vertretenen Lee Hazlewood. Der verstand es, grimmige Inhalte mysteriös zu verschleiern oder ihnen mittels Humor einen Twist in Richtung Erträglichkeit zu verleihen.

Oft, so behauptete er, wusste seine Duettpartnerin Nancy Sinatra gar nicht, was sie in Songs wie Sugar Town oder Some Velvet Morning eigentlich sang. In dieser Sammlung hingegen bringen er und alle anderen ihre Geschichten auf den Punkt: Pulp Fiction – mit beiden Beinen im Leben und dem Tod stehend.

Das begründete eine Tradition, die heute Singer-Songwriter wie Bill Callahan, Bonnie "Prince" Billy oder Steve Earle hochhalten – im langen Schatten der Bobbie Gentry. (Karl Fluch, 23.8.2021)