"Ein Kreuz zu machen ist ein Akt der Vertrauensübertragung", erklärt Habeck: Für die nächsten Jahre würden die Wählerinnen und Wähler dann darauf vertrauen, dass in ihrem Sinne entschieden wird.

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Schleswig – Lange dauert es nicht, bis Robert Habeck versucht, seinen Heimvorteil auszuspielen. Er steht auf einer mobilen Bühne auf einem Parkplatz in Schleswig, einer Stadt im nördlichen deutschen Bundesland Schleswig-Holstein. Vor zehn Jahren habe er hier bei den Grünen angefangen. "Das war vor 20 Jahren!", ruft ein Mann aus dem Publikum belustigt dazwischen – er war dabei. Ach ja, stimmt, sagt Habeck. Damals sei der Kreisvorsitzende der Grünen in Schleswig aus der Partei ausgetreten, weil die Grünen den deutschen Afghanistan-Einsatz mittrugen. Deswegen musste Habeck den Job dann machen. Heute ist er Co-Parteichef, aber nicht Kanzlerkandidat.

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Beim Wort "Afghanistan" biegt Habeck auch gleich von der vorbereiteten Heimat-Erzählung ab zum aktuellen Thema. Der Einsatz in dem Land sei gescheitert, jedenfalls militärisch. "Jetzt muss Deutschland darum kämpfen, dass aus dem militärischen Scheitern nicht auch ein moralisches Scheitern wird", sagt er.

Vorbild Schleswig-Holstein

Zurück nach Schleswig-Holstein, wo Habeck nicht nur herkommt, sondern auch um ein Direktmandat kämpft – dafür müsste er die meisten Erststimmen in seinem Wahlkreis erhalten. "Das wäre das Größte und Schönste, was mir in diesem Jahr politisch passieren könnte", sagt Habeck, der ja auch gerne Spitzenkandidat seiner Partei geworden wäre, in der internen Entscheidung aber Annalena Baerbock unterlegen ist.

"Wir im Norden sind halt solche Dickköpfe", sagt Habeck den Menschen, die rund um die kleine Bühne stehen oder auf Kartonhockern sitzen. Der Politiker zeichnet ein Bild von Schleswig-Holstein als Vorbild für die Versöhnung: Vor 20 Jahren seien etwa die Gräben zwischen der deutschen Mehrheit und der dänischen Minderheit hier noch tief gewesen, heute schätze man die Vielfalt.

"Bauern und Umweltverbände Hand in Hand vor den Diskontern"

Ein Auflösen vermeintlicher Gegensätze wünscht sich Habeck für ganz Deutschland: Als die miserablen Arbeitsbedingungen in einigen deutschen Schlachtbetrieben bekannt wurden, habe Greenpeace dort demonstriert – und konventionelle Landwirte hätten gegen Greenpeace demonstriert.

Doch als die Bauern vor Diskontern gegen Preisdumping bei Milchprodukten protestierten, standen Umweltschützer nicht an deren Seite, auch wenn sie ähnliche Interessen hätten. "Konventionelle Bauern und Umweltverbände Hand in Hand vor den Diskontern", das wäre Politik ohne die alten Gegensätze, "dass man sich zuhört, dass man die andere Seite in ihren berechtigten Interessen sieht". Schleswig-Holstein mache das schon vor.

Wie auch den Erfolg der Grünen: Dieses weite, ländlich und landwirtschaftlich geprägte Bundesland – "Wer hätte gedacht, dass diese Partei, die gegründet worden ist für Probleme, die die Mehrheit der Menschen nicht gesehen hat, heute die Schleswig-Holstein-Partei geworden ist?", spielt Habeck auf die hervorragenden Umfragewerte in dem Bundesland an. Man sehe hier, wie lange die Reise der Grünen gedauert und wohin sie geführt habe.

Kohleausstieg 2038? "Logisch anspruchsvoll"

Und am 26. September soll der Weg für die Grünen ins Kanzleramt führen. Denn die große Koalition aus CDU und SPD, sagt Habeck, habe bewiesen, dass sie das drängendste Problem nicht lösen könne. "Es gibt eine Frage unserer Zeit, die nicht mehr korrigierbar sein wird, wenn sie jetzt nicht energisch angegangen wird. Und das ist die Begrenzung des menschgemachten Temperaturanstiegs auf der Erde."

Eine CO2-Reduktion um 88 Prozent bis 2040 sei das Ziel der Regierung. Das bedeute: alles, was irgendwie geht, klimaneutral zu machen. Das Zieldatum für den Kohleausstieg habe die Regierung aber für 2038 festgelegt. "Das ist, vorsichtig formuliert, logisch anspruchsvoll." Deutlicher: "Es ist in Wahrheit der Weg zur nächsten Verantwortungslosigkeit."

Lauter Protest von Impfgegnerinnen

Das angekündigte Townhall-Format ist in vorab gesammelten und aufgeschrieben Karten verwirklicht, die von einer grünen Funktionärin vorgelesen werden. Warum eine Feministin einen Mann wie Habeck wählen soll? Repräsentation ist wichtig, aber er würde sich solidarisch für Frauen einsetzen, sagt Habeck routiniert.

"Wir im Norden sind halt solche Dickköpfe", sagt Robert Habeck.
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Ob die Grünen für einen Impfzwang eintreten? Nein, das sei auch schon oft erklärt worden, setzt Habeck an und wird auch bald von im Publikum verteilten Impfgegnerinnen und -gegnern unterbrochen, die noch Nachfragen stellen wollen. "Es gibt das Recht, sich nicht zu impfen, aber es gibt nicht mehr die berechtigte Erwartung, dass alle anderen zurückstecken müssen", sagt Habeck forsch.

Die protestierende Impfgegnerin schreit ihm noch entgegen, dass sie früher einmal die Grünen gewählt habe, das nun aber sicher nicht mehr machen wird, und geht. Vom Grün-affinen Publikum erhält Habeck für seine Gegenrede den lautesten Applaus.

Plädoyer für Fehlerkultur

"Ein Kreuz zu machen ist ein Akt der Vertrauensübertragung", erklärt Habeck noch: Für die nächsten Jahre würden die Wählerinnen und Wähler dann darauf vertrauen, dass in ihrem Sinne entschieden wird. Die Bewährungsproben dafür seien nicht "die Dinge, die in Wahlprogrammen stehen. Sondern die, die plötzlich kommen." Corona, die deutsche Einheit, Fukushima, Flutkatastrophen.

"Da passieren Fehler", und "die müssen dann auch zugestanden werden", plädiert Habeck für eine neue Fehlerkultur in der Politik: "Es wäre sehr gut, wenn Politik das mal wieder zulassen würde", sagt er, ohne den bisher pannenreichen Wahlkampf der Grünen zu erwähnen: Der Name Baerbock fällt an diesem Abend nicht. (Sebastian Fellner aus Schleswig, 23.8.2021)