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Der 23. August war der letzte Arbeitstag für den scheidenden New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo. In seiner Abschiedsrede stellte er sich erneut als Opfer einer politischen Kampagne dar.

Foto: Reuters / ANDREW KELLY

Kommenden Herbst wird die #MeToo-Bewegung vier Jahre alt. Doch trotz der stärksten feministischen Kampagne gegen sexualisierte Gewalt, Belästigung und Übergriffe gehört all das noch immer zum Alltag. Der Demokrat und inzwischen zurückgetreten New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo bestritt trotz der Vorwürfe von elf Frauen, jemals sexuell belästigt oder anzügliche Wortmeldungen von sich gegeben zu haben. Es brauchte sechsmonatige Ermittlungen, die Sichtung von 74.000 Dokumenten und 179 Gespräche mit Menschen aus dem Arbeitsumfeld von Cuomo, bis dieser schließlich zum Rücktritt bewegt werden konnte und "Fehler" eingestand. Doch davor stritt er alles ab und behauptete, dass er weder sexuell belästigt noch unangemessene sexuelle Annäherungsversuche gemacht habe.

Wie lange sich mächtige Männer in Sicherheit wiegen, davon zeugt auch ein anderer Fall. R. Kelly steht derzeit wegen sexueller Ausbeutung Minderjähriger, Entführung und Bestechung vor Gericht. In Zusammenarbeit mit einem ganzen Team soll R. Kelly Frauen und Mädchen zum Sex gezwungen haben. Die Vorwürfe reichen 25 Jahre zurück, 2008 stand der Popstar schon einmal wegen Besitzes von Bildern schweren sexuellen Kindesmissbrauchs vor Gericht und wurde freigesprochen. Es sind also sehr drastische Vergehen, deren R. Kelly beschuldigt wird. Seinen Fall eint aber mit jenem von Cuomo und zahlreichen anderen Fällen von sexualisierten Übergriffen und Gewalt, dass das Umfeld solidarisch die Mauer für den Beschuldigten machte und so jahrelang Betroffene zum Schweigen gebracht wurden.

Intakte Mauer?

Ist diese Mauer des Schweigens, die Unantastbarkeit von Künstlern und mächtigen Männern oder einfach nur des Chefs vorbei? Ist sie zumindest brüchiger geworden? In Österreich gab es während der größten medialen Aufmerksamkeit für #MeToo im Jahr 2017 einen starken Anstieg an Beschwerden bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft. Diese informiert und berät zu Diskriminierung und darüber, welche Möglichkeit es im Rahmen des Gleichbehandlungsgesetzes gibt. Sie begleitet Menschen auch bei Vergleichsgesprächen und Verhandlungen im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens. Im #MeToo-Jahr stieg der Beratungsbedarf stark an. 330 Beratungen wurden zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz vorgenommen, im Jahr davor waren es nur 187. Nach 2017 pendelte es sich wieder auf gleichbleibendem Niveau ein: 2018 waren es 259 Beratungen, ein Jahr später 209, und 2020 waren es 210 Beratungen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.

Dass es per se heute für Frauen selbstverständlicher ist, etwas gegen sexuelle Belästigung zu unternehmen, kann Constanze Pritz-Blazek, stellvertretende Leiterin der Gleichbehandlungsanwaltschaft, somit nicht bestätigen. Allerdings stehen ihnen neue Formen der Beweismittel zur Verfügung, und die werden durchaus genutzt. Etwa Chatverläufe, die aufgehoben werden und ein möglicherweise sexualisiertes Klima aufzeigen können, erzählt Pritz-Blazek. Vonseiten der Belästiger gewinnt die Gleichbehandlungsanwältin hingegen manchmal den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben: "Es gibt nach wie vor sexuelle Belästigung in einer Form, als ob der gesamte Diskurs zu #MeToo an manchen Vorgesetzten komplett vorbeigegangen wäre."

Eine nachhaltige Verbesserung sei allerdings, dass viele Unternehmen das Thema losgelöst vom Einzelfall angehen. Es gebe zunehmend Compliance-Überlegungen und Schulungen der Gleichbehandlungsanwaltschaft zur Abhilfe gegen sexuelle Belästigung, die in Anspruch genommen werden.

Feministisch gegen Klägerinnen

Allerdings kann ein zunehmend professioneller Umgang mit sexuellen Übergriffen auch eine bessere Verteidigungslinie für Beschuldigte bedeuten, wie der Fall Andrew Cuomo zeigte. Durch ihn wurde bekannt, dass Roberta Kaplan, Chefin des feministischen Vereins Time's Up, mithalf, die Mauer für Cuomo zu machen. Time's Up wurde im Zuge der Aufbruchstimmung durch #MeToo gegen die Diskriminierung von Frauen und sexuelle Belästigung gegründet. Im Zuge der Untersuchungen der Vorwürfe gegen Coumo wurde bekannt, dass Kaplan auch ihn beraten hat. Sie prüfte einen offenen Brief von Coumo, in dem jene Frau diffamiert wurde, die sich als Erste in die Öffentlichkeit gewagt hatte – und die somit wohl das größte Risiko einer öffentlichen Vernichtung einging. Als herauskam, dass Kaplans Einsatz in Sachen sexuelle Belästigung auch der anderen Seite galt, trat sie als Chefin von Time's Up zurück.

Schon in den ersten Monaten von #MeToo gab es einen ähnlichen Fall: Lisa Bloom, eine prominente, versierte und kämpferische Anwältin für Frauenrechte, hat Harvey Weinstein beraten. Ausgerechnet sie, die furchtlos Fälle gegen äußerst mächtige Männer übernahm. Bloom hat etwa Frauen in den Prozessen gegen Bill Cosby oder den Fox-News-Moderator Bill O'Reilly vertreten – und auch gewonnen. Sie vertrat ebenso Opfer von Jeffrey Epstein und zwei Frauen, die Donald Trump des sexuellen Fehlverhaltens beschuldigten.

2017 wurde bekannt, dass sie auch für Harvey Weinstein arbeitete. Laut Bloom hat sie ihn nur dabei beraten, welches Verhalten, welcher Ton angemessen wäre. Die Staranwältin als Benimmcoach? Eine teure Angelegenheit. Schließlich wurde bekannt, dass sie weit darüber hinaus auch dabei mitgeholfen hat, Frauen zu diskreditieren, die gegen den damals noch mächtigen Weinstein aufstanden. Sowohl Ronan Farrow ("Durchbruch. Der Weinstein-Skandal und seine Folgen") als auch die "New York Times"-Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey ("#MeToo. Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung") konnten zeigen, dass Lisa Bloom etwa ganz konkrete Vorschläge ausgearbeitet habe, wie Rose McGowans Glaubwürdigkeit zerstört werden könnte. McGowan war eine der Ersten, die Weinstein öffentlich der sexualisierten Gewalt bezichtigten.

Täter im Blick behalten

Hat #MeToo somit auch ein neues Geschäftsfeld für Expert*innen für Antidiskriminierungsrecht und sexuelle Belästigung gebracht? Für jene, die genau wissen, womit Beschuldigte heute rechnen müssen und womit man die Glaubwürdigkeit von Betroffenen zerstört? Die wissen, wie man für Täter und Beschuldigte mit politisch korrektem und feministischem Wording in die Bresche springt?

Constanze Pritz-Blazek warnt dennoch davor, den Blick zu stark auf die moralische Integrität von Frauen zur richten, anstatt bei den Tätern zu bleiben. "Als Feministin wünscht man sich natürlich nicht, dass feministisch orientierte Anwältinnen Fälle übernehmen, die sich gegen die Frauen wenden", sagt sie. Dennoch sei Antidiskriminierungsrecht nun einmal Rechtsmaterie von einer Komplexität, für die es Spezialist*innen brauche. Und diese Expert*innen vertreten auch die Unternehmensseite. Dennoch müsse sich eine Anwältin der Frage stellen, ob sie sich als Frau oder als Feministin vor einen Karren spannen lassen will. (Beate Hausbichler, 24.8.2021)