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Am Flughafen in Kabul drängen sich Flüchtende.

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"Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt, und das ist beschämend", sagte Marcus Grotian am Dienstag.

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US-Präsident Joe Biden hat sich also doch noch entschieden. Er lässt am Dienstagabend via US-Medien durchgeben, was zuvor schon feststand, zwischendurch aber immer wieder in Zweifel gezogen worden war: Die USA planen weiterhin, sich mit 31. August aus Afghanistan zurückzuziehen. Eine Verlängerung dieser Frist werde es nicht oder jedenfalls nur sehr unwahrscheinlicherweise geben.

Aber die Rettung all jener, die das Land nun verlassen müssen oder wollen – die werde es selbstverständlich geben, so die Linie des Weißen Hauses. Biden lässt sich, so teilt das Weiße Haus später auch offiziell mit, auch eine Hintertüre offen. Die US-Truppen würden so lange in Afghanistan bleiben, "bis unsere Ziele erfüllt sind". Man arbeite an Notfallplänen, sollte das nicht der Fall sein. Es deute aber alles darauf hin, dass das mit 31. August der Fall sein werde, auch weil die Koordination mit den Taliban noch funktioniere. Wie das alles angesichts der Massen, die immer noch vor dem Flughafen Kabul ausharren, und angesichts jener, die sich vor den Taliban verstecken müssen genau gehen soll – darüber herrscht weiter Schweigen.

In Berlin tritt Stunden zuvor, als dieses Detail noch nicht bekannt ist, gerade Marcus Grotian zu einer Pressekonferenz an die Mikrofone. Ihm sind der Frust und das Entsetzen deutlich anzusehen und anzuhören. "Wir sind moralisch verletzt, aber nicht vom Vorgehen der Taliban", sagt der deutsche Bundeswehrsoldat, der selbst in Afghanistan gedient hat und jetzt in Berlin das "Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte" leitet.

"Unterlassene Hilfeleistung"

Vielmehr richtet sich die Kritik Grotians in einer Pressekonferenz am Dienstag an die höchsten Stellen in Berlin: "Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt, und das ist beschämend." Er wirft ihr "unterlassene Hilfeleistung" in Afghanistan vor. Sie habe mit der Evakuierung der Ortskräfte, die für die Deutschen gearbeitet haben, viel zu spät begonnen und sie dann auch noch durch bürokratische Hürden erschwert.

Mit "bürokratischen Tricks" habe sie die Zahl der ausreiseberechtigten Afghaninnen und Afghanen heruntergerechnet. So seien zunächst Ausreisegenehmigungen nur an jene erteilt worden, die in den vergangenen Jahren für die Deutschen gearbeitet hätten. Viele seien dadurch um ihr Recht gebracht worden. Grotian: "Ortskräfte wurden abgelehnt, weil sie zur falschen Zeit fürs falsche Ministerium gearbeitet haben. Ich habe den Eindruck, wir haben hier Menschen wissentlich und bewusst zurückgelassen."

Die Hauptschuld gibt er Kanzlerin Angela Merkel. Da sich die Ministerien für Inneres, Äußeres und Verteidigung gegenseitig blockierten, habe er sich im Juni und Juli mit fünf Schreiben an das Kanzleramt gewandt. Doch es sei nie eine Antwort erfolgt.

Grotian bezweifelt auch die von der Regierung angegebene Zahl von 2.500 ausreiseberechtigten Afghanen. Eigentlich, sagt Grotian, gehe es um 8.000 Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen. "Ich fürchte", sagt er, "dass wir sehr viele Menschen in Afghanistan zurücklassen."

Uno berichtet von Hinrichtungen

Wie ernst die Lage dort – vor allem für die Afghaninnen und Afghanen – tatsächlich ist, schilderte die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, bei einer eilig einberufenen Sondersitzung des Gremiums am Dienstag. Die Taliban führten demnach Massenhinrichtungen von Zivilisten und regierungstreuen Sicherheitskräften durch. Auch der Bewegungsspielraum der Frauen werde entgegen der Propaganda immer drastischer eingeschränkt. Die Berichte, so Bachelet, seien glaubhaft. Und: "Es bestehen gravierende Risiken für Frauen, Journalisten und die neue Generation von Leitfiguren der Zivilgesellschaft, die in den vergangenen Jahren in Erscheinung traten."

Während die Taliban mit Hochdruck an der Besetzung der eroberten Regierungsposten arbeiten – am Dienstag wurden der Finanz- und der Innenminister sowie ein neuer Gouverneur für Kabul ernannt –, suchen die Spitzenrepräsentantinnen und -repräsentanten des Westens nach einer Antwort auf die Frage, wie man künftig mit den radikalen Islamisten an der Macht umgehen soll. CIA-Chef William Burns höchstpersönlich soll sich der Washington Post zufolge am Montag in Kabul mit Taliban-Führer Abdul Ghani Baradar getroffen haben. Das Blatt beruft sich auf nicht näher bezeichnete US-Beamte. Über Inhalte des Gesprächs wurde – wenig überraschend – nichts bekannt.

Briten wollten länger bleiben

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson wollte sich angesichts der schwierigen lag noch für eine Verlängerung des Einsatzes über den 31. August hinaus starkmachen. Sowohl sein Land als auch Frankreich haben allerdings erklärt, nicht ohne Hilfe der aktuell mehr als 5800 US-Soldaten auf dem Flughafen Kabul weitermachen zu können. Die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industriestaaten (G7) wollten am Nachmittag in einer Videokonferenz über die Lage beraten. Die Taliban hatten zuvor jeglichen Aufschub kategorisch ausgeschlossen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte, die USA würden über eine Verlängerung wohl noch am Dienstag entscheiden.

Der deutsche EU-Abgeordnete Erik Marquardt kündigte zeitgleich eine Luftbrücke per Charterflug an, um die staatlichen Evakuierungsbemühungen zu unterstützen. Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid erklärte indes in einer Pressekonferenz, dass man künftig keine weiteren Afghaninnen und Afghanen zum Kabuler Flughafen lasse. Das Chaos dort sei zu groß geworden.

G7 fordert mehr Flexibilität

In ihrer gemeinsamen Erklärung fordern die G7-Staaten auf ihrem Gipfel mehr Flexibilität beim Evakuierungseinsatz. Man wolle ab sofort "künstliche Deckelungen bei der Zahl der Evakuierten vermeiden", hieß es dort in einer Erklärung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, die Hilfsgelder der Union für Afghaninnen und Afghanen inner- und außerhalb des Landes auf 200 Millionen Euro zu vervierfachen. Allerdings ließ des Konzert der großen Staaten auch Uneinigkeit erkennen – und Missvergnügen über die gemeldete Entscheidung der USA. (Birgit Baumann aus Berlin, Florian Niederndorfer, 24.8.2021)