Seine unsterblichen dodekaphonischen Melodien sind beliebt bei Jung und Alt: Anton Webern, Schönberg-Schüler.

Foto: Webern-Archiv

In keinem anderen Weltzeitalter als dem unseren erfreute sich moderne Kunst so sehr der ungeteilten Zustimmung aller. Menschen, die privat sonst lieber den Signalhorntönen Helene Fischers lauschen und darüber paarungswillig werden, pilgern heute in Scharen in die Festspielhäuser. Ein Spektakel von Luigi Nono wie Intolleranza 1960, das von Folter handelt, von Vertreibung und anderen Menschheitskatastrophen? Kommt für alle wie gerufen! Dabei vergisst man aus Freude über die modernistische Gesinnung der Österreicherinnen leicht, dass es vieler Jahrzehnte fronvoller Aufklärung bedurfte, um die störrische Klientel zu Arnold Schönberg und Co zu bekehren – von Nono zu schweigen.

Natürlich, heute pfeifen die Angestellten in den Bäckereifilialen Motive aus Anton Weberns Symphonie op. 21, wenn sie die Bleche voller Weckerln aus dem glühend heißen Ofen ziehen. Ob verminderte Quinte oder klirrende Sekunde: Hauptsache, das Ding wuppt und ist von Webern!

Viele Skeptiker

In den frühen Jahren der Reformära Bruno Kreiskys begegneten mir, einem Klaviertonleitern übenden Babyboomer, in Betreff neuester Modernität viele Skeptiker. Eine Ruftante, seit Generationen in Besitz eines kostbaren Musikvereins-Abos, sprach mit Blick auf die Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule gar von "Scheißlichkeiten". Sie war die erste Frau, an der ich eine Blaufärbung der sorgfältig gepflegten Haare gewahrte. Am meisten faszinierte mich aber ihr "ei" in "Scheißlichkeit". Ich verspürte den sanften Anhauch von Anarchie.

Eine andere Ruftante, eine Speditionsangestellte, quittierte einmal die Betrachtung einer Fritz-Wotruba-Skizze (Quader, Würfel) mit dem Ausruf: "Dös kon i aa!" Worauf meine Mutter sie fragte, warum sie denn, mit solchen Eigenschaften gesegnet, noch keine schmucke Betonkirche errichtet habe? Aber Tante Grete stand mit Kulturerzeugnissen auf Kriegsfuß. Als sie einmal die Schallplattensammlung eines hochrangigen Diplomaten in den Mittleren Osten verschicken lassen musste, kamen am Zielort nichts als Scherben an. Gut möglich, dass der arme Botschafter ganz ohne Nono und Webern in Pakistan festsaß. (Ronald Pohl, 25.8.2021)