Der britische Premier Boris Johnson drängte dazu, wenigstens die Aufnahme und Betreuung zehntausender Flüchtlinge zu koordinieren.

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Das Videotreffen der Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen (G7) zu Afghanistan hat am Dienstag die Spannungen im westlichen Bündnis bestätigt. Schon vorab war deutlich geworden, dass eine zentrale Forderung europäischer Nationen hinfällig ist: Eine Verlängerung der chaotischen Evakuierung westlicher Staatsbürger und ihrer afghanischen Helfer über den 31. August hinaus scheitert am gemeinsamen Widerstand von Taliban und US-Präsident Joe Biden. Der britische Premier Boris Johnson drängte als Gastgeber die Partner dazu, wenigstens die Aufnahme und Betreuung zehntausender Flüchtlinge zu koordinieren. Auch soll die Anerkennung der neuen afghanischen Regierung von der Einhaltung bestimmter Standards, darunter Frauenrechte, abhängig gemacht werden.

Johnson hatte das Gespräch mit den Vertretern Japans, Kanadas und der USA sowie des EU-Trios Deutschland, Frankreich und Italien vergangene Woche ins Spiel gebracht, um vom eigenen Versagen bei der Planung des Abzugs abzulenken. Als nächsten Schritt will London gemeinsam mit Paris eine gemeinsame Resolution der beiden permanenten europäischen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat einbringen. Dazu allerdings bedarf es des Dialogs nicht nur mit den USA, sondern auch mit den anderen Vetomächten China und Russland. Um mit diesem Duo sowie der anderen wichtigen Regionalmacht Indien ins Gespräch zu kommen, plant zudem Italiens Ministerpräsident Mario Draghi als derzeitiger Vorsitzender der G20 eine Afghanistan-Konferenz im September.

Keine Verschiebung mehr

Der Wunsch des Brexit-Premiers, der Westen müsse "eine gemeinsame Afghanistan-Politik" formulieren, klingt angesichts der Machtverhältnisse wie Pfeifen im Walde. Spätestens seit dem G7-Gipfel im Juni im englischen Cornwall und dem Nato-Gipfel wenige Tage später in Brüssel musste den Europäern klar sein, dass die USA am einmal beschlossenen Abzug festhalten würden. Dieser war ursprünglich für Ende Mai vorgesehen und wurde von den US-Amerikanern gegen Taliban-Widerstand eigenmächtig auf Ende August hinausgeschoben. Sprecher des neuen Regimes in Kabul machten am Dienstag erneut deutlich: Eine neuerliche Verschiebung kommt nicht infrage.

Johnsons Interesse an Afghanistan ist neu. In seinen zwei Amtsjahren hat er das Land nie besucht, im vergangenen Jahr die Entwicklungshilfe für das bettelarme Land am Hindukusch um drei Viertel gekürzt. Zumindest Letzteres soll nun teilweise revidiert werden, soweit die neue Regierung bestehende Hilfsprojekte auch weiterhin zulasse, teilte das zuständige Foreign Office schon vergangene Woche mit.

Hilfsaktion vor Ort

Unterdessen läuft die Hilfsaktion vor Ort auf Hochtouren weiter. Binnen einer Woche wurden mehr als 26.000 Menschen ausgeflogen. Für das US-Militär stellt die Luftbrücke in die Nachbarländer die größte Evakuierung von Zivilisten in seiner Geschichte da. Binnen 24 Stunden gelang es bis Dienstagmorgen, 21.600 Betroffene auszufliegen. Im gleichen Zeitraum habe Großbritannien 2.000 gerettet, berichtete Verteidigungsminister Ben Wallace der BBC. Jeder Tag sei ein Bonus, sagte der Ex-Soldat: "Jede Stunde bedeutet Menschenleben." Zugleich warten um den Flughafen herum immer noch zahlreiche Menschen, vor allem afghanische Ortskräfte und ihre Angehörigen, die nicht bis auf das Flughafengelände vordringen können, weil Taliban-Kämpfer sie daran hindern. Ein Taliban-Sprecher sagte am Dienstag offiziell, man werde Afghanen nicht mehr zum Flughafen durchlassen, weil die Situation dort so chaotisch sei.

Für gefährdete Afghanen wäre eine Verlängerung der Evakuierungsfrist also möglicherweise überlebenswichtig. Allerdings bleibt die Frage offen, wie viele ihrer einstigen Köche, Fahrer und Übersetzer samt deren Familien die Nato-Mitglieder aufnehmen können und wollen. Zudem lässt die Diskussion über eine Fristverlängerung die Situation vor Ort völlig außer Acht.

Militärischer Konflikt

Natürlich könnten seine Fallschirmjäger mitsamt Verbündeten den Flughafen von Kabul auch ohne die USA einnehmen und einige Monate oder Jahre halten, argumentierte Wallace. "Die werden dann dauernd beschossen und angegriffen. Will die internationale Gemeinschaft wirklich wieder einen militärischen Konflikt austragen?" Sollte es beim Abzugstermin 31. August, also kommenden Dienstag, bleiben, werde man die eigenen Truppen an diesem Donnerstag abziehen, hieß es in Paris.

Genau dies sei das Problem des Termins binnen Wochenfrist, analysiert Patricia Lewis vom Londoner Thinktank Chatham House auf Frage des STANDARD: "Die Rettungsaktion muss sehr bald zu Ende gehen." Übers Wochenende und bis zum Termin am Dienstag sind die Truppen vor Ort – derzeit annähernd 7.000 US-Amerikaner und rund 1.000 Briten, dazu kleinere deutsche, französische, norwegische und türkische Kontingente sowie 800 Nato-Bedienstete – damit beschäftigt, ihre eigenen Leute und das dazugehörige Material auszufliegen.

Für die Zukunft müsse das Hauptaugenmerk darauf liegen, betont Lewis' Kollege Hameed Hakimi, die Entwicklung Afghanistans politisch zu beeinflussen. Nicht zuletzt brauche das Land weiterhin finanzielle Unterstützung: 75 Prozent aller Staatsausgaben für Schulen, Krankenhäuser und andere Infrastruktur werden aus internationaler Hilfe, vor allem aus dem Westen, bestritten. "Und ich sehe keinen Appetit in der Region, auch nicht bei Russland und China, anstelle des Westens einzuspringen." (Sebastian Borger aus London, 24.8.2021)