Grenzzaun in Nickelsdorf.


Foto: STANDARD / Christian Fischer

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Frage: Bundeskanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer betonen wiederholt, dass Österreich "freiwillig" keine afghanischen Flüchtlinge aufnehmen wird. Was bedeutet das?

Antwort: Eine freiwillige Aufnahme wäre, wenn Österreich etwa afghanische Ortskräfte, die derzeit aus Kabul ausgeflogen werden, oder andere Flüchtlinge über Resettlement-Programme der Uno aus Flüchtlingslagern aufnehmen würde. Dazu ist Österreich rechtlich nicht verpflichtet. Rufe der EU-Kommission, von NGOs oder auch der Grünen, zumindest eine begrenzte Zahl von bedrohten Afghanen aufzunehmen, weist die ÖVP zurück,

Frage: Wie begründet das die ÖVP?

Antwort: Es leben jetzt schon zwischen 42.000 und 47.000 Afghanen in Österreich. Das sind rund 0,5 Prozent der Bevölkerung, der höchste Anteil in der EU und nach Iran und Pakistan der dritthöchste weltweit. Diese Gruppe sei besonders anfällig für Kriminalität und schwerer integrierbar als andere Flüchtlinge, klagt die ÖVP. Beides wird von manchen Kritikern angezweifelt.

Frage: Heißt das, dass Österreich gar keine Afghanen aufnimmt?

Antwort: Nein. Es gibt einen regelmäßigen Zustrom von Afghanen, die die Grenze nach Österreich meist mithilfe von Schleppern überschreiten und dann um Asyl ansuchen. Österreich muss aufgrund von EU- und Völkerrecht diese Menschen aufnehmen und ein ordentliches Asylverfahren abwickeln. Anders als jene EU-Staaten, die Asylwerber laut NGO-Berichten durch sogenannte Pushbacks abweisen, halten sich österreichische Behörden zumeist an diese Verpflichtung.

Frage: Um wie viele Menschen handelt es sich?

Antwort: Im Vorjahr gab es 3137 Asylanträge afghanischer Staatsbürger, die zweitgrößte Gruppe nach den Syrern, ein Fünftel aller Anträge. Im ersten Halbjahr 2021 gab es 1880 neue afghanische Asylwerber, ein Anteil von 18 Prozent. Das ist im Verhältnis zur österreichischen Bevölkerung sehr hoch: Im zehnmal größeren Deutschland suchten im Vorjahr nur 9900 Afghanen um Asyl an.

Frage: Welche Chancen haben Afghanen auf Asyl?

Antwort: Im Vorjahr gab es 2875 positive Asylbescheide für Afghanen, ein Anteil von 41 Prozent; dazu kamen 1198 Personen, denen subsidiärer Schutz, also eine temporäre Aufnahme, zugesprochen wurde. Mehr als 3000 Asylentscheidungen waren negativ. Abgeschoben werden Afghanen dennoch sehr selten, und dann meist in andere EU-Staaten, wo sie nach den Dublin-Regeln zuerst um Asyl hätten ansuchen sollen.

Frage: Woher kamen diese Asylwerber?

Antwort: Die wenigsten kamen direkt aus Afghanistan, die meisten hielten sich in den vergangenen Jahren im Iran, in der Türkei, in Bosnien-Herzegowina oder anderen Transitstaaten auf. Viele sind eher vor dem Krieg als vor Verfolgung geflüchtet und suchen jetzt einen Wohnort für ein menschenwürdiges Leben.

Frage: Wie unterscheiden sich diese Asylwerber von jenen Afghanen, die jetzt vor den Taliban flüchten?

Antwort: Es sind zum Großteil junge Männer, in vielen Fällen unbegleitete Jugendliche, sie kommen oft mit geringer Bildung und wenig Kenntnissen an. Die neuen Flüchtlinge sind meist besser gebildet und westlich orientiert. Außerdem sind mehr Frauen dabei, die sich vor der Taliban-Herrschaft besonders fürchten. Diese Menschen ließen sich wahrscheinlich besser integrieren; aber ihre Aufnahme wäre freiwillig, also für die ÖVP inakzeptabel.

Frage: Ist mit einem Anstieg der Zahl afghanischer Asylwerber in Österreich zu rechnen?

Antwort: Kurzfristig nein. Die Grenzen rund um Afghanistan sind weitgehend zu, und der übliche Weg über Iran, Türkei, Griechenland und den Westbalkan ist mit großen Hürden verbunden. Sollten die Taliban Frieden schaffen, könnten einige Kriegsflüchtlinge aus der Region in ihre Heimat zurückkehren. Aber wenn es erneut zu massiven Fluchtbewegungen kommt, werden früher oder später wieder mehr Afghanen in Europa landen – auch in Österreich. (Eric Frey, 25.8.2021)