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Die USA haben bisher 70.700 Menschen aus Afghanistan evakuiert.

Foto: Reuters / Staff Sgt. Victor Mancilla/U.S. Marine Corps/Handout

Kabul – US-Präsident Joe Biden hat vor einer wachsenden Terrorgefahr am Flughafen in Kabul gewarnt. Jeder Tag, den man wegen der Evakuierungen länger vor Ort bleibe, sei ein weiterer Tag, an dem ein örtlicher Ableger der Terrormiliz "Islamischer Staat" versuchen könnte, den Flughafen anzugreifen, sagte Biden. Es gebe die "akute und wachsende Gefahr eines Anschlags", sagte er am Dienstag nach einer Videoschaltung der G7-Staats- und -Regierungschefs zur Lage in Afghanistan.

Die USA halten daher vorerst an ihrem Plan fest, ihre Truppen bis zum 31. August aus Afghanistan abzuziehen. "Je früher wir es abschließen, desto besser", sagte Biden.

Biden will Taliban "nach ihren Taten beurteilen"

Das US-Militär reduzierte unterdessen seine Truppenpräsenz auf dem Flughafen Kabul nach eigenen Angaben um "mehrere Hundert" Soldatinnen und Soldaten. Das sei bei einem laufenden Einsatz Teil der normalen Entscheidungsgewalt des örtlichen Kommandeurs, erklärte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby. Es handle sich dabei unter anderem um Beschäftigte der Zentrale, Spezialisten für Wartungsarbeiten und andere Soldaten, deren Mission auf dem Flughafen abgeschlossen sei, erklärte er am Dienstag. Das US-Militär hatte dort zuletzt rund 5.800 Soldaten im Einsatz.

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Laut dem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, hat das US-Militär mehrere Hundert Soldaten aus Afghanistan abgezogen.
Foto: AP / Manuel Balce Ceneta

Kirby betonte, der routinemäßige Abzug einiger Truppen stelle nicht den Beginn des Abzugs aller Soldaten aus Afghanistan dar. Das sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht befohlen worden, erklärte er.

Taliban kontrollieren Flughafenumfeld

Laut Biden bestand bei den G7-Beratungen am Dienstag Einigkeit darüber, dass die Anerkennung einer künftigen Regierung in Afghanistan von zahlreichen Bedingungen abhänge. "Wir sind uns einig, dass niemand von uns die Taliban beim Wort nehmen wird. Wir werden sie nach ihren Taten beurteilen, und wir werden uns eng über alle Schritte abstimmen", sagte Biden. Entscheidend sei etwa, ob die Taliban internationalen Verpflichtungen nachkämen und verhinderten, dass Afghanistan erneut als "Basis für Terrorismus" genutzt werden könne.

Über den IS-Ableger sagte Biden, die Terrorgruppe sei auch ein erklärter Feind der Taliban. Mit einem Anschlag auf den Flughafen könnte der IS-Ableger die Glaubwürdigkeit der Taliban als neue Machthaber erschüttern und auch ausländische Truppen treffen, die der Gruppe verhasst sind. Die Taliban kontrollieren das Gebiet rund um den Flughafen.

Weltbank friert Afghanistan-Zahlungen ein

Die Lage besorgt unterdessen auch die Weltbank. Sie friert neue Auszahlungen für ihre Hilfs- und Entwicklungsprojekte in Afghanistan vorerst ein. "Wir sind tiefbesorgt angesichts der Lage in Afghanistan und der Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung des Landes, insbesondere für Frauen", erklärte ein Sprecher der Weltbank am Dienstag. Das weitere Vorgehen werde mit der internationalen Gemeinschaft und Partnern der Entwicklungszusammenarbeit abgestimmt. Es gehe darum, Wege zu finden, wie die in Afghanistan mit harter Arbeit erzielten Fortschritte bewahrt werden könnten und wie man die Menschen dort weiter unterstützen könne, erklärte der Sprecher der internationalen Organisation weiter.

Die Weltbank war für Afghanistan – eines der ärmsten Länder der Welt – bisher ein wichtiger Geldgeber für Entwicklungsprojekte. Sie unterstützte Afghanistan von 2002 bis April dieses Jahres nach eigenen Angaben mit Hilfen von fast fünf Milliarden US-Dollar. Im Februar gab es demnach zwölf Projekte in Afghanistan mit einem Volumen von rund 940 Millionen Dollar, hinzu kamen weitere Vorhaben in Zusammenarbeit mit einem örtlichen Fonds für den Wiederaufbau. Der ebenfalls in Washington ansässige Internationale Währungsfonds (IWF) hatte bereits vergangene Woche angekündigt, die Zusammenarbeit mit Afghanistan zu pausieren.

USA evakuierten über 70.000 Menschen

Die Taliban haben Mitte August die Macht in Afghanistan an sich gerissen. Biden ordnete deshalb eine Verstärkung der US-Truppen au fdem Flughafen Kabul an, um eine Evakuierung westlicher Staatsbürger, afghanischer Ortskräfte und anderer Schutzbedürftiger zu ermöglichen.

Von der US-Luftwaffe und den Verbündeten seien seit dem 14. August insgesamt 70.700 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen worden, erklärte Biden. Angesichts des Fortschritts bei den Evakuierungen solle am Abzug bis Ende August, also bis spätestens kommenden Dienstag, festgehalten werden. Biden fügte aber hinzu, er habe das Außen- und das Verteidigungsministerium angewiesen, Alternativpläne zu erarbeiten, um den Zeitplan des Abzugs anzupassen, falls das nötig sein sollte. Die Fortführung des Einsatzes hänge auch von der Kooperation der Taliban ab.

Auch Deutschland plant einen baldigen Abzug aus Afghanistan. Der letzte Flug der Luftbrücke für deutsche Staatsbürger und gefährdete Ortskräfte könnte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bereits am Freitag organisiert werden. Die deutsche Regierung reagiere damit auf das Festhalten der USA an ihrem Abzugsdatum Ende August. Ein Sprecher des deutschen Verteidigungsministeriums wollte diese Angaben am Mittwoch aber weder bestätigen noch dementieren.

Kritik an Flughafen in Doha

Einige internationale Partner hatten die USA zu einer Verlängerung des Einsatzes aufgefordert, um noch mehr Zeit für die Evakuierungen zu haben. Der Militäreinsatz ist von den US-Truppen abhängig.

"Wir waren uns heute alle einig, dass wir mit unseren engsten Partnern Schulter an Schulter stehen werden, um die aktuelle Herausforderung in Afghanistan zu meistern", sagte Biden mit Blick auf die G7-Gespräche. Man werde auch künftig mit vereinten Kräften zusammenarbeiten, versprach er.

Die USA versprachen unterdessen nach Berichten über schlechte hygienische Zustände auf dem Militärflugplatz nahe der katarischen Hauptstadt Doha eine schnelle Besserung. Der Flugplatz ist ein wichtiges Drehkreuz für die Evakuierungsflüge aus Afghanistan. "Wir sind uns dessen bewusst und arbeiten schnell daran, die Situation zu verbessern, und wir wollen natürlich, dass die Menschen, die evakuiert werden, mit Respekt behandelt werden", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Dienstag. Zuvor hatte etwa das Nachrichtenportal "Axios" unter Berufung auf eine E-Mail eines US-Beamten von Ratten, Urin und Fäkalien berichtet.

Katars Flughafen als "Hölle auf Erden"

Selbst wenn Afghanen ein Sondervisum für die USA haben, kommen sie nicht direkt in das Land. Militärflüge bringen sie zunächst auf US-Stützpunkte oder in andere Transitzentren in Drittstaaten – wie etwa nach Katar. Von diesen Zwischenstationen sollen die Menschen nach einer Sicherheitsprüfung in die USA gebracht werden. "Axios" zufolge sind auf dem Stützpunkt in Katar tausende Afghanen vorläufig untergebracht. Laut dem Bericht ist die Situation dort "die Hölle auf Erden". Psaki betonte, dass der Bericht des Portals sich auf die Lage vor einigen Tagen beziehe.

Man sei sich der "schrecklichen hygienischen Zustände in Katar" bewusst, die dort geherrscht hätten, sagte Verteidigungsministeriumssprecher Kirby. Man habe bereits daran gearbeitet, sie zu verbessern. "Ich werde mich hier nicht hinstellen und sagen, dass sie perfekt sind, denn das sind sie nicht, weil die Evakuierten weiterhin nach Katar strömen und im Moment eine Menge vor Ort sind", so Kirby. Niemand suche Ausreden. "Wir erkennen an, dass die sanitären Verhältnisse und die Hygiene in vielerlei Hinsicht noch nicht das Niveau erreicht haben, das wir uns wünschen."

Die deutsche Bundeswehr hat unterdessen mittlerweile mehr als 4.650 Bundesbürger, Afghanen und Bürger anderer Staaten aus Kabul evakuiert. Am Dienstagabend landete ein Militärtransporter des Typs A400M mit 178 Menschen an Bord in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, wie die Bundeswehr in der Nacht auf Mittwoch twitterte. "Damit wurden bisher insgesamt mehr als 4.650 Menschen aus Afghanistan evakuiert", hieß es. Von Taschkent aus geht es dann weiter nach Deutschland.

Forza Italia kritisiert Kurz und Ungarn

Österreichs Weigerung, freiwillig zusätzliche afghanische Geflüchtete aufzunehmen, hat Kritik aus Italien kassiert. Die mitregierende Forza Italia von Ex-Premier Silvio Berlusconi kritisierte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Ungarn, die sich gegen eine solche Aufnahme ausgesprochen hatten.

"In der Afghanistan-Krise ist es nicht hinnehmbar, dass Österreich und Ungarn von vornherein eine totale Abschottung anstreben und die Last der Aufnahme der schwächsten Menschen, insbesondere von Frauen und Kindern, die aus Kabul fliehen, und derjenigen, die jetzt ihr Leben riskieren, weil sie die Demokratie verteidigt haben, auf andere europäische Hauptstädte abwälzen", sagte der EU-Abgeordnete der Forza Italia, Massimiliano Salini.

"Die Afghanistan-Krise stellt das ungelöste Problem des Fehlens einer wirklichen gemeinsamen Migrationspolitik auf europäischer Ebene wieder ins Rampenlicht. Angesichts der Gefahr der wahllosen Aufnahme und des Eindringens von Terroristen ist äußerste Vorsicht geboten, vor allem aber eine organische und funktionierende EU-Einwanderungspolitik, die es Europa ermöglicht, auf Notfälle wirksam und geordnet zu reagieren", erklärte der EU-Abgeordnete, der Mitglied der Europäischen Volkspartei ist. (APA, 25.8.2021)