Wackelige Angelegenheit: ein Turmbau live auf der Bühne.

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Nach zweieinhalb Stunden haftet der Zuschauerblick wie gebannt am oberen Rand des Bühnenkastens. Denn in Halle E des MQ kratzt ein dreistöckiger Turm am Schnürboden. Vier Figuren in schwarzen Overalls haben ihn ganz ohne Flaschenzüge oder Sicherungsseile vor den Augen des Publikums aus zig mannshohen Bretterwänden zusammengesteckt. Er wackelt bei jeder Bewegung, etwas Kräftezehrenderes und Gefährlicheres kann man sich kaum als Theaterstück vorstellen. Zugleich hat man – fasziniert – dergleichen noch nie zuvor auf einer Bühne gesehen. Hoffentlich fällt keiner herunter!

Die französische Performerin Phia Ménard ist für den Nervenkitzel verantwortlich. Sie ist bekannt für ihren architektonischen Zugang zum Theater. Denn in Architektur, meint Ménard, drückt sich der Zustand der Gesellschaft aus. Dieser Turmbau hier ist ein zentraler Teil der mit den Wiener Festwochen koproduzierten Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe). Eine Zeremonienmeisterin stöhnt anfangs noch bei jedem eingeschobenen Bolzen erschaudernd, verlegt sich dann aber auf isländische Gesänge (Wahnsinnsstimme!) und betet eine "Maschine" an. Es ist eine dehumanisierte Welt, die hier errichtet wird.

Oder wie Ménard bei einem Pressetermin im Vorfeld sagte: Was wir heute weltweit sehen, sind gebaute "Schwänze". Vatertempel heißt diese Szene folglich problembewusst.

Packende physische Unmittelbarkeit

Inhaltlich verlässt sich der Abend auf ein paar klare Ideen wie diese. Es ist seine physische Unmittelbarkeit, die viel mehr packt. Hier wird nicht getrickst. Ménard kommt vom Jonglieren, der Primat des Körperlichen prägt ihre Arbeiten. Jeder Griff ist präzise, jeder Bauteil, jede Bewegung ist durchdacht. Das erzeugt rührende, oft wuchtige Bilder.

Schon vor zwei Jahren zeigte Ménard den ersten Teil dieser Trilogie. Mutterhaus ist humorvoller, weniger düster als Vatertempel. Darin müht sie sich kostümiert als Punkgöttin ab, einen Tempel (symbolisch für Weisheit) aus Verpackungskarton (steht für Kapitalismus) zu bauen. Bloß ist der doppelt so hoch wie sie. Zitterpartie! Kollektives Aufatmen auch heuer, als das Ding steht.

Das dauert – wie der Turmbau – aber seine Zeit, wird in der Wiederholung auch einmal langweilig. Doch das gehört dazu. Umso mehr fiebert man bei den Kleinigkeiten mit. Zum Abschluss sprüht Ménard eine Folie vor der Bühne schwarz an, bis diese verschwindet, wischt sich aber ein Sichtfenster auf sie frei: Theater als Sehnsucht. Oh ja! (Michael Wurmitzer, 26.8.2021)