Die EU-Kommission ersucht dringend, einen Anteil jener tausenden Menschen aufzunehmen, die am Flughafen von Kabul Schutz vor den Taliban suchen. Der Bundespräsident appelliert, dies zu tun. Die Kirchen ebenso. Die Uno warnt vor Massenexekutionen durch die Taliban. Allein, die ÖVP bleibt hart. Sebastian Kurz bleibt hart.

Der Kanzler kann keinen Grund sehen, warum Österreich freiwillig Menschen aus Afghanistan aufnehmen soll. Er redet von Hilfe vor Ort, sein Innenminister von weiteren Abschiebungen. Nichts davon ist derzeit realistischerweise umzusetzen, aber das ficht die Kanzlerpartei nicht an. Sie hat wieder "ihr" Thema, mit dem sie der FPÖ bei der letzten Nationalratswahl 250.000 Wähler abspenstig gemacht hat: Härte in Asylfragen, keine Gnade gegenüber Geflüchteten, Schließung aller Fluchtrouten und auch keine Zuwanderung mehr.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne).
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Dass sich das alles in der Realität so nicht umsetzen lässt, dass dies auch keine vorausschauende und verantwortungsvolle Politik ist – egal. Ganz bewusst wird für die Bevölkerung ein Bedrohungsszenario aufgebaut, das so nicht vorhanden ist: Weder steht Europa vor einer neuen "Flüchtlingswelle", noch geht es derzeit darum, tausende jener männlichen, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aufzunehmen, die sich vielfach so schwer integrieren. Es geht um Übersetzer, Feministinnen, Lehrerinnen – viele emanzipierte Frauen, die zu Recht Todesangst vor den Taliban haben. Das sollte zu den westlichen Werten Österreichs passen. Aber: Nach der Wahl ist vor der Wahl, im September in Oberösterreich. Und am Samstag muss sich Kurz dem ÖVP-Parteitag stellen. Das sind Gründe genug, um die Rolle des Hardliners durchzuziehen.

Unsolidarische Haltung

Kollateralschäden werden billigend in Kauf genommen. Auf europäischer Ebene herrscht vielerorts Unverständnis über die unsolidarische Haltung der Österreicher – ironischerweise sogar bei Silvio Berlusconis rechter Forza Italia.

Die Grünen zerreißt es fast vor aller Augen, täglich kann man mitverfolgen, wie sich grüne Regierungsspitze und Basis einander entfremden, wie sehr sich Regierungspragmatik und das Ringen um Glaubwürdigkeit aneinander reiben. Vizekanzler Werner Kogler müht sich sichtlich ab, er vermisst bei der ÖVP die "Menschlichkeit". Man merkt dennoch das Bemühen um Zurückhaltung und koalitionäre Rücksichtnahme. Die Frage ist, wie lange dieser Spagat noch gelingt.

Auch bürgerliche, christliche Werte

Kurz nimmt aber auch in Kauf, dass er wesentliche Teile seiner ÖVP, die nicht türkis geprägt sind, vor den Kopf stößt. Mitmenschlichkeit, Unterstützung für Hilfesuchende, Solidarität mit Schwachen sind nicht, wie es die FPÖ gerne darstellt, eine Spezialität von "Linken" und "Gutmenschen". Es sind bürgerliche, christliche Werte. Für eine Regierungspartei ist es auf Dauer zu wenig, Politik nach Umfragen zu machen. Sie muss gestalten, sie muss inhaltliche Marken setzen, durchaus auch in der Einwanderungspolitik, jedenfalls in der Außenpolitik. Doch davon ist nichts zu sehen, das türkise Getöse ist rein populistisch geprägt.

Das Kogler’sche Aufbegehren mag ein zaghafter Versuch sein, die ÖVP daran zu erinnern. Für die Grünen geht es um ihre Glaubwürdigkeit. Sie könnten hier ruhig selbstbewusster auftreten. Denn auch die ÖVP hat nicht so viel Spielraum, wie sie vorgibt. Nach Neuwahlen sehnt sich derzeit in Österreich niemand. (Petra Stuiber, 25.8.2021)