Die grüne Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic mit einer Botschaft an Kanzler Sebastian Kurz: "Jetzt geht es darum, Menschenleben zu retten."

Foto: Christopher Glanzl

Ein Bekannter hat ihr das selbstgemalte Schild in die Hand gedrückt, Ewa Ernst-Dziedzic hält es in die Kamera: "Save People Not Voters" steht darauf zu lesen. Eine kaum verhohlene Kritik an Bundeskanzler Sebastian Kurz. Als grüne Abgeordnete ist Ernst-Dziedzic Teil der Koalition mit der ÖVP, dennoch nahm sie am Dienstagabend an einer Demonstration teil, in der auch die Absetzung von Innenminister Karl Nehammer gefordert wurde. "Ja, es gibt Widersprüche", sagt Dziedzic im Gespräch mit dem STANDARD, sie unterschreibe nicht alle Parolen dieser Demonstration. Aber die meisten.

Die Aussagen von Kurz und Nehammer nennt die Grünen-Abgeordnete "unseriös" und "menschenverachtend". "Die Zeit der Nachbetrachtung kommt bestimmt. Jetzt geht es darum, Menschenleben zu retten, politischen Druck zu machen, die Zivilgesellschaft zu unterstützen, dagegenzuhalten." Österreich müsse sich daran beteiligen, gefährdete Menschen aus Afghanistan zu retten und aufzunehmen, in wenigen Tagen werde sich das Tor schließen.

Pflegeleichtes Feindbild

Damit steht Dziedzic in direktem Widerspruch zur ÖVP. Und sie ist damit nicht alleine. "Das ist die grüne Position", sagt sie. "Ich spreche für die Grünen." Die Debatte um Abschiebungen in solch einer Situation sei würdelos. Und die Türkisen, so fügt sie an, würden nie ihre Freunde werden. Aber: Es sei auch Aufgabe der Grünen, eine Diskursverschiebung nach rechts aufzuhalten. Das sei ein schlagender Grund gewesen, überhaupt in diese Koalition einzutreten. "Ob die Übung gelingt, werden wir bewerten müssen. Aber was könnte unserem Koalitionspartner in der Wartezeit auf eine Anklage des Kanzlers Besseres passieren, als dass wir jetzt beim Asylthema das Handtuch schmeißen?" Diesen Gefallen wolle sie der ÖVP keinesfalls tun.

Dziedzic war keineswegs die einzige Grüne, die Dienstagabend in Wien für eine Aufnahme von Afghanen demonstrierte. Die Wiener Grünen waren sogar Mitveranstalter, die Parole "Nehammer absetzen" sei aber erst danach ins Programm gekommen, wie sie versichern. Dennoch hätte mit einem Rücktritt des Innenministers wohl keiner bei den Grünen, schon gar nicht bei den Wiener Grünen, ein gröberes Problem. Im Gegenteil: Karl Nehammer ist neben Sebastian Kurz ein pflegeleichtes Feindbild, beide stehen für eine Politik, die als irrational und unmenschlich empfunden wird.

Internationales Ansehen

Am Mittwoch hat sich schließlich auch Grünen-Chef Werner Kogler geäußert. Er vermisst beim Koalitionspartner die Menschlichkeit. Österreich sei international immer ein verlässlicher Partner gewesen, wenn es um Menschenrechte und humanitäre Hilfe geht, erklärte der Vizekanzler. Jetzt "aus offenbar taktischen Gründen" einen anderen Weg einzuschlagen "lässt angesichts der dramatischen Bedrohung gerade von Frauen und Kindern nicht nur die notwendige Menschlichkeit vermissen, sondern schadet auch massiv dem internationalen Ansehen Österreichs und unserer Rolle als verlässlicher Partner in Europa", sagte Kogler in Richtung ÖVP. Es sei wichtig, "dass der Innen- und der Außenminister auf dem festen Boden der Verfassung und Menschenrechtskonvention wieder aktiv an einer Lösung arbeiten, die dieser Rolle Österreichs in Europa gerecht wird und Österreich nicht noch weiter in der europäischen Gemeinschaft isoliert", richtete Kogler seinen türkisen Kollegen aus. Jetzt müsse alles auf europäischer Ebene Mögliche getan werden, anstatt "fortwährend über rechtlich Unmögliches" zu diskutieren.

Ähnlich äußerte sich auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein. Derzeit könne es rein rechtlich keine Abschiebungen nach Afghanistan geben, "das hat sich in der Zwischenzeit herumgesprochen". Daher müsse das europarechtlich Mögliche getan werden, anstatt darüber zu diskutieren, was man in Österreich nicht tun könne, nämlich abschieben.

Schallenberg weist Vorwürfe zurück

Außenminister Alexander Schallenberg von der ÖVP wies die Vorwürfe in der Zib2 am Mittwoch erneut deutlich zurück. Österreich habe eine Verpflichtung zu helfen – aber vor Ort und nicht durch die Aufnahme von Menschen. Dazu stelle man UN Women und dem Flüchtlingshochkommissariat 15 Millionen Euro zur Verfügung, zusätzlich zu den bereits angekündigten drei Millionen Soforthilfe. Abschiebungen nach Afghanistan seien "derzeit" nicht möglich – wohl aber in Drittstaaten.

Die Aufnahme weiterer Menschen lehne er ab, Österreich beherberge ja schon sehr viele Afghaninnen und Afghanen. Das internationale Renommee sieht er nicht beschädigt, dieses sei "völlig unbelastet und unbeschadet".

"ÖVP verrät ihre Werte"

Auch etliche Grüne aus den Bundesländern formulieren allerdings ihren Unmut. Der grüne Vorarlberger Landesrat Johannes Rauch bezeichnet den Afghanistan-Kurs der ÖVP als "Schande", er fordert eine härtere Auseinandersetzung mit dem Koalitionspartner. Es gehe jetzt darum, Flüchtlinge aufzunehmen.

Mit deutlichen Worten in Richtung ÖVP reiht sich auch die Grazer Stadträtin Judith Schwentner in die Kritikerrunde der Grünen ein: "Ich begleite selbst eine junge Afghanin, die in Graz lebt, und bekomme unmittelbar mit, welchen Ängsten ihre Familie vor Ort und hier ausgesetzt ist." Sie sei "selbstverständlich" für die Aufnahme von Geflüchteten. "Wir hätten keine solche Debatte, wenn die einstmals christlich-soziale ÖVP in diesem Land ihre einstigen Werte nicht tagtäglich verraten würde." (Walter Müller, Michael Simoner, Michael Völker, red, 25.8.2021)