Eine Kundgebung der SPÖ anlässlich einer weiteren Tötung einer Frau im Mai.

Foto: Martin Juen/imago

Es ist ein Mammutprojekt, so viel steht schon vor dem Start fest: Rund zehn Betretungs- und Annäherungsverbote wurden in Wien 2020 täglich ausgesprochen. Das passiert meistens, wenn es zu "Gewalt in der Privatsphäre" kommt, wie es im polizeilichen Fachjargon heißt.

Ab 1. September müssen die weggewiesenen Personen – laut Walter Dillinger, Jurist im Rechtsbüro der Landespolizeidirektion (LPD) Wien, zu "wahrscheinlich mehr als 90 Prozent" Männer – eine sechsstündige Beratung in Anspruch nehmen. Innerhalb von fünf Tagen muss sich dafür der Gefährder melden und einen Termin ausmachen. Tut er das nicht, droht im schlimmsten Fall eine Verwaltungsstrafe von bis zu 1.000 Euro. Das gilt übrigens auch, wenn nicht alle Termine eingehalten werden oder die Person nicht "aktiv" mitarbeitet und beispielsweise nur Zeit absitzt.

Gewaltstopp als oberstes Ziel

Das große Ziel: dass Gewalt in der Partnerschaft oder in der Familie künftig unterlassen wird. Und wenn die Betroffenen überhaupt keine Einsicht zeigen, große Instabilität, vielleicht auch Drogen- oder Alkoholprobleme vorherrschen und eine weitere Eskalation droht, diese Gefahr der Polizei, aber auch den Opferschutzeinrichtungen weiterzuleiten.

Möglich macht das neue Angebot eine Novelle im Sicherheitspolizeigesetz. "Damit ist der letzte Teil des Gewaltschutzgesetzes 2019 nun umgesetzt", sagt Dillinger. Bei der LPD Wien sei man über das neue Angebot "sehr dankbar", denn es sei wichtig, auch beim Täter anzusetzen. "Wir wollen jetzt auch die Ursachen einer Krankheit bekämpfen, nicht nur Medikamente verschreiben", veranschaulicht er den neuen Prozess.

Die Kosten für die Beratungen tragen nicht die weggewiesenen Personen, sondern der Bund.

Verein Neustart als Partner in Wien

Der Partner für diese Gewaltpräventionsarbeit ist in fünf Bundesländern, darunter auch Wien, der Verein Neustart, der seit vielen Jahren im Auftrag des Justizministeriums Bewährungshilfe, aber auch Antigewalttrainings für Männer anbietet. Das Personal in Wien wird deswegen in den nächsten Wochen um fast 25 Prozent – 150 Angestellte sind es jetzt, 25 bis 30 sollen dazukommen – aufgestockt, sagt Nikolaus Tsekas, der in Wien Neustart leitet. Zunächst sollen aber die erfahrenen Kollegen und Kolleginnen die Gewaltpräventionsberatungen übernehmen, "weil es ein sehr heikler Bereich ist", sagt Tsekas. Nach und nach könne man dann auch neu angestellte Personen dazunehmen. "Logistisch ist all das eine Challenge, aber wir kriegen das hin", ist er zuversichtlich.

Kritik der Opferschutzorganisationen

Diese Zuversicht haben Vertreterinnen der Opferschutzorganisationen offenbar nicht. Anfang der Woche sagte etwa Rosa Logar, Leiterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, man dürfe keine Illusionen haben, was Täterarbeit bewirken könne. Außerdem wurde kritisiert, dass man bei der Planung der Präventionsprogramme nicht ins Boot geholt worden sei.

Tsekas kann die Kritik nur teilweise nachvollziehen. Eine Einbeziehung sei zeitlich einfach nicht möglich gewesen – erst Ende Juli erfolgte der Zuschlag für das Großprojekt. Abgesehen davon stehe man aber ständig in Kontakt mit den Opferschutzeinrichtungen – und das sei auch gut so. Und: "Ich bin überzeugt, dass diese sechs Stunden etwas helfen." Das wisse er aus seiner eigenen Erfahrung als Berater. "Aber natürlich muss man auch so ehrlich sein und sagen – wir werden keine 100 Prozent Erfolgsquote haben."

Vernetzung als großes Thema

Um in diese Richtung zu kommen, würde es in den Beratungsstunden vor allem um einen Gewaltstopp gehen, darum, dass die Betroffenen ihre Verantwortung für die Tat erkennen, aber auch um rechtliche Beratung und mögliche Konsequenzen. "Es geht de facto um Krisenintervention", sagt Tsekas. Eine Gefährdungseinschätzung müsse Teil der Arbeit sein, "wenn wir Gefahr in Verzug vermuten, schalten wir natürlich die Polizei ein". Außerdem sei auch die Einschätzung, ob es weitere Maßnahmen – ein Antigewalttraining, Psychotherapie oder medizinische Angebote – brauche, zentral. Diese sind dann aber freiwillig.

Die Vernetzung mit der Polizei ist aber auch im Vorfeld schon wichtig. Neustart soll innerhalb von wenigen Stundend die vollständige Dokumentation über das Betretungsverbot bekommen – ein sechsseitiges Formular, wo alle Details festgehalten sind: wer die Polizei gerufen hat, um welche Wohnung es ging, ob die Beamtinnen und Beamten einschreiten mussten, ob es bereits früher Einsätze oder auch Verfahren oder Vorstrafen gibt.

Mehr Hochrisikokonferenzen

Gute Kontakte wolle man deswegen auch zu Staatsanwaltschaft und Gericht pflegen, meint Tsekas. Ganz generell sei im Gewaltpräventionsbereich eine multiinstitutionelle Vernetzung enorm wichtig. Für die Zukunft wünscht er sich deswegen nicht nur einen guten Start des neuen Projektes, sondern auch mehr Hochrisikokonferenzen, wo Vertreter von Polizei, Opferschutzorganisationen, Neustart, der Justiz und anderen Institutionen über Gefährder sprechen. Das Pouvoir, diese Konferenzen einzuberufen, liegt seit 2020 bei der Polizei. Dass es in letzter Zeit mehr dieser Treffen geben hätte können, sagt aber nicht nur Tsekas, auch LPD-Jurist Dillinger räumt Luft nach oben – und den Willen dazu – ein. (Lara Hagen, 26.8.2021)