Ein präziser Vokalanalytiker: Christian Gerhaher

Foto: Thomas Egli

Othmar Schoecks Notturno für Stimme und Streichquartett op. 47. basiert auf nachtschwarzen Gedichten von Nikolaus Lenau. Es geht um das Ende einer Liebe und Einsamkeit. Der Vokalpart deklamiert, schleppt sich ohne Hoffnung dahin; jeder Intervallsprung ist einer in die Depression.

Bariton Christian Gerhaher findet im Haus für Mozart jedoch immer noch Klangschattierungen im scheinbaren Einheitsgrau. Eingebettet ist sein Vokalpart in den Streichersatz als eine quasi fünfte Stimme, wobei die Streicher insofern das Stück dominieren. Schoeck (1886 bis 1957) malt hier indes keine Naturstimmungen und verwehrt – ohne atonal zu arbeiten – dennoch jeglichen herkömmlichen tonalen Trost.

Pure Romantik

Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 wirkte danach wie pure Romantik. Die Geigerinnen Isabelle Faust und Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit und Danusha Waskiewicz (Viola) sowie Jean-Guihen Queyras und Christian Poltéra (Violoncello) betörten zudem mit einer radikal zupackenden dramatischen Lesart, die in den lyrischen Passagen geradezu sanglich wirkte.

Schließlich Berlioz‘ Les Nuits d’été op. 7 in der Bearbeitung für Singstimme und Streichsextett von David Matthews, 2005 geschrieben für Christian Gerhaher. Beschränkte sich der Sänger bei Schoecks Notturno scheinbar auf eine Lautstärke und eine Klangfarbe, ließ Gerhaher als singulärer Gestalter auch in romantischem Überschwang und Wohlklang strikte Kontrolle walten und brachte die schwelgerisch-schwärmerischen Nummern auf Texte von Theophile Gautier zu umso strahlenderer Wirkung.

Man leidet quasi mit. Etwa mit der Rose, die an die Brust der Ballkönigin geheftet ihren Geist aushaucht. Und so scheint das klagende Lied Absence von Berlioz nichts anderes zu sein als eine subtil kolorierte Variante der grauen Verlustklagen von Schoeck. Solches vermittelt aber nur jene Tiefenschärfe, zu der ein präziser Vokalanalytiker wie Gerhaher fähig ist. (klaba, 27.8.2021)