Bei 28 Insassen Guantánamos steht bereits fest, dass es nie zu einem Prozess kommen wird. Trotzdem werden sie nicht entlassen.

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Kurz nachdem die Taliban Kabul erobert hatten, meldete sich Gholam Ruhani aus dem Präsidentenpalast der afghanischen Hauptstadt zu Wort. Umringt von Kämpfern mit Maschinenpistolen, gab er dem Sender Al-Jazeera ein Interview.

Für die Amerikaner ist er, wenn man so will, ein alter Bekannter. Ruhani, ein Mann Mitte vierzig, hatte fast sechs Jahre in ihrem Gewahrsam verbracht. Im Januar 2002 war er einer der ersten Gefangenen, die, nicht nur an den Händen, sondern auch an den Füßen gefesselt, vor den Augen zugeklebte Schutzbrillen, nach Guantánamo gebracht wurden. Im Dezember 2007, noch unter George W. Bush, kam er auf freien Fuß, ohne dass jemals Anklage gegen ihn erhoben worden wäre. In seiner Heimat schloss er sich erneut den Taliban an. Heute ist er einer ihrer Kommandeure.

Risiko durch Guantánamo-Häftlinge

Es sind Biografien wie diese, die Joe Bidens erklärtes Ziel, das Lager im Südostzipfel Kubas zu schließen, womöglich wieder in weite Ferne rücken lassen. Zumindest sind sie Wasser auf die Mühlen all jener, die von einer Schließung nichts halten. Angeführt von Ted Cruz, einem Hardliner aus Texas, hatten acht republikanische Senatoren den Präsidenten bereits vor Wochen in einem offenen Brief davor gewarnt, die verbliebenen Gefangenen aufs amerikanische Festland zu verlegen. In ausnahmslos allen Fällen, hatten sie argumentiert, sei das Risiko dafür zu groß.

Biden erwägt, eine Blaupause Barack Obamas aus der Schublade zu holen und die Häftlinge nach Florence fliegen zu lassen, in einen Hochsicherheitstrakt im Rocky-Mountains-Staat Colorado. Den Plan, glaubt James Connell, ein Washingtoner Anwalt, der Guantánamo-Insassen vertritt, dürfte er nun vorübergehend auf Eis legen. Angesichts des Siegeszuges der Taliban, orakelt Connell, werde das Weiße Haus auf die Bremse treten. "Die Regierung Biden dürfte es für eine Weile langsamer angehen lassen. Auch glaube ich nicht, dass es in nächster Zeit Freilassungen geben wird."

Geständnisse unter Folter

Momentan sind es 39 Gefangene, die noch auf der Flottenbasis in der Karibik einsitzen, während es auf dem Höhepunkt, unter Bush, 779 gewesen waren. Gegen elf laufen Verfahren, wobei die eigentlichen Gerichtsverhandlungen zumeist noch nicht begonnen haben. Der Prozess gegen Khalid Scheich Mohammed, den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, quält sich bereits seit über neun Jahren durch eine Art Vorstadium. Die Crux: Geständnisse, die durch Folter erpresst wurden, haben auch vor den Militärrichtern, die in Guantánamo urteilen, keinen Bestand.

In 28 Fällen steht fest, dass es nie zu einer Verhandlung kommen wird. Zehn dieser Insassen könnten das Lager sofort verlassen. Ein Überprüfungsgremium, in der Regie von CIA und Pentagon agierend, hat ihren "Transfer", wie es im Jargon der Bürokratie heißt, bereits 2016 empfohlen. Dann aber zog Donald Trump im Weißen Haus ein, ein Mann, der auf Wahlkundgebungen angekündigt hatte, Guantánamo mit "ein paar üblen Kerlen" aufzufüllen.

Biden, der eher im Stillen an einer Lösung arbeitet, ohne Fristen zur Schließung zu verkünden, wie es Obama bei Amtsantritt tat, steht vor einem doppelten Problem. Zum einen muss er Länder finden, die die Entlassenen aufnehmen. Länder, in denen ihnen keine Folter droht. Zum anderen bestehen die Amerikaner auf Garantien, dass die "Transferierten" überwacht und an einer Rückkehr ins radikalislamistische Milieu gehindert werden.

Erste Freilassung unter Biden

Noch im Juli hatte es so ausgesehen, als komme der von Trump unterbrochene Prozess wieder in Gang. Der Marokkaner Abdul Latif Nasser – nach Angaben des Pentagon hatte er mit den Taliban gekämpft und in afghanischen Camps des Terrornetzwerks Al-Kaida den Umgang mit Sprengstoff erlernt – wurde nach 19 Jahren in "Gitmo" in seine Heimat geflogen. Es war die erste Freilassung unter Biden, es schien, als würden bald weitere folgen. Lee Wolosky, einst von Obama zum Sondergesandten ernannt, um mit anderen Staaten über die Aufnahme von Guantánamo-Gefangenen zu verhandeln, sprach von einem Durchbruch. "Guantánamo ist ein Relikt einer Ära, die nun zu Ende geht", hatte er zuvor in der New York Times kommentiert. "Biden hat die Chance, etwas in Ordnung zu bringen, was Obama bis heute bedauert."

Nur: Will der Präsident Nägel mit Köpfen machen, ist er auf eine Mehrheit im Kongress angewiesen. Dort aber könnte sich wiederholen, was schon seinen Vorvorgänger scheitern ließ. Bereits 2010, damals war eine Haftanstalt am Mississippi, in einem Dorf in Illinois, als Alternative zu "Gitmo" im Gespräch, sperrte die Legislative die nötigen Finanzmittel für den Bau eines Hochsicherheitsflügels. Seitdem lässt sie regelmäßig Passagen in Haushaltsgesetze einfließen, nach denen für die Überstellung von Häftlingen aus der Enklave auf Kuba kein Geld ausgegeben werden darf. Und es waren bei weitem nicht nur Republikaner, die für solche Klauseln stimmten. Auch Demokraten handelten oft nach der Devise "Nimby" – "Not in my backyard". Für den eigenen Hinterhof, sprich: den eigenen Wahlkreis, war der Guantánamo-Ersatz bislang auch für sie tabu. (Frank Herrmann aus Washington, 27.8.2021)