Was an der Fassade mit grüner Geste beginnt, entwickelt sich im Inneren zu einem ungewöhnlichen Kaufhaus mit vollautomatisiertem Regallager

Foto: Hertha Hurnaus

Drinnen schwedisches Restaurant, draußen die Mahü.

Foto: Hertha Hurnaus

Das Haus, die Fassade, die Offenheit, die vielen Bäume, und dann erst die Bienen, die kommendes Frühjahr einziehen werden", sagt Marie, gelbes T-Shirt, am Rücken ein "Hej!", wir sind per du, "also ich finde dieses Konzept absolut überwältigend. Für mich ist das der schönste und außergewöhnlichste Ikea, in dem ich je war."

Seit sechs Monaten ist Marie Hofmann Customer Experience and Event Manager, so nennt sich ihr Job, am neuen City-Standort neben dem Wiener Westbahnhof. Sie hat das Projekt in der letzten Bauphase begleitet und ihre Expertise eingebracht, damit das Einkaufserlebnis im kleinsten Schwedenmöbelhaus Österreichs zum Abenteuer wird.

Erster Eindruck nach einem Minieinkauf mit selbst eingescannten und kontaktlos bezahlten Jubla, Fantastisk und Sommardröm: Viel Arbeit wird Marie damit nicht haben, denn die ersten Kundinnen und Kunden, die sich für die Einkaufspremiere online registrieren mussten, sind ganz verzückt beim Durchwandern der Etagen, ohne dass sie zwischen potemkinschen Schlafzimmerkojen irgendwelchen blöden Pfeilen auf dem Boden folgen müssen. Und auch das architektonische Auge ist bisweilen ungehalten baff ob der Tatsache, dass dieses Konzept eines autolosen Blumentopfhauses – wie zu Beginn in tollkühner Manier direkt aus dem Hirn herausskizziert – den Weg in die Realität gefunden hat.

Ein Stück Natur

"Das war von Anfang an eine sehr einzigartige Zusammenarbeit", sagt Jakob Dunkl, Querkraft Architekten, "denn wir wurden gebeten, einen radikalen Entwurf zu machen und uns ruhig etwas zu trauen. Also haben wir uns getraut." Neun Architekturbüros aus ganz Europa wurden 2017 zu einem zweistufigen Wettbewerb eingeladen, darunter auch so alte Retailhasen wie BWM, BEHF und Snøhetta. Aufgrund eines Kopf-an-Kopf-Rennens wurde kurzerhand noch eine dritte Stufe einberufen, die Querkraft für sich beanspruchen konnte.

"Ikea hat viel weniger Nutzfläche gefordert als laut Bauordnung und Flächenwidmung auf das Grundstück draufgepasst hätte, also haben wir uns entschieden, auf allen Seiten um mehr als vier Meter zurückzuspringen und der Stadt ein Stück Natur zurückzugeben", so Dunkl.

Rund um das eigentliche Gebäude, das in Stahlbeton-Skelettbauweise errichtet wurde und während der Bauphase noch ein mäßig famoses Bild abgegeben hat, steht nun ein weißes, sechsgeschoßiges Stahlregal aus 30 Zentimeter fetten I-Trägern und bildet damit eine Matrix für Erker, Terrassen und Dutzende Laub- und Nadelbäume, die ausschauen, als hätte ein Riese Bonsaibäumchen und kleine Sukkulenten in sein Billy-Regal hineingestellt.

Eingetopfte Pflanzen

Zu den an der Fassade eingetopften Pflanzen zählen Ahorne, Kiefern, Birken, Buchen, Eichen, Eschen, Weidenbäume sowie diverse Gräser, Stauden und Beeren. Die Artenvielfalt spiegelt jene Flora wider, die in der südschwedischen Provinz Småland – der Heimat des Ikea-Gründers Ingvar Kamprad – zu finden ist.

Entwickelt wurde die Freiraumplanung von Green for Cities und Kräftner Landschaftsarchitektur. Den beiden Büros ist auch die unsichtbare Gartentechnik zu verdanken, denn jeder einzelne der insgesamt 160 Blumentöpfe, die an vier Fassaden und auf der öffentlich zugänglichen Dachterrasse montiert sind, ist mit Feuchtigkeitssensoren und automatischer Be- und Entwässerung ausgestattet.

"Die Lieferung und Montage der Bäume war sehr spannend, denn aufgrund des großen Gewichts mussten die Töpfe, die Bäume und das Erdreich voneinander getrennt auf das Haus gehoben werden", sagt Sandra Sindler-Larsson, Market Establishment Manager beziehungsweise, weniger du-ikea-deutsch, technische Projektleiterin auf Bauherrenseite. Immerhin wiegen die gefüllten und bewässerten Behältnisse, eine Ingefära-Kopie, Blumenabteilung, vier Euro das Stück, je nach Größe und Baumsorte zwischen 1,5 und sieben Tonnen. "Natürlich wären eckige Tröge billiger gewesen als diese runde Version aus gebogenem, zusammengeschweißtem Stahlblech, aber Blumentöpfe sind nun einmal rund."

Spazierengehen und Stöbern

Im Inneren gleicht der Ikea, dessen Fassade mit Glas und Sandwich-Paneelen verkleidet und der an das Wiener Fernwärmenetz angeschlossen wurde, auf den ersten Blick einem normalen, viergeschoßigen Möbelhaus. Mit nur 20 nachgestellten Showrooms liegt der Fokus weniger auf dem häuslichen Einlullen wie in jeder anderen blaugelben Kiste am Stadtrand als vielmehr auf dem Spaziergehen und Stöbern.

Auch das Sortiment unterscheidet sich deutlich: Kaufen kann man alles, bis hin zur maßgeschneiderten Küche, allerdings liegen im unterirdischen, vollautomatisierten Regallager lediglich 3000 Cash-and-Carry-Produkte bereit. Mitnehmen kann man nur, was man in einer Tragtasche in der U-Bahn transportieren kann. Alles andere wird mit einem der 30 neu angeschafften Elektro-Trucks bis vor die Wiener Wohnungstür geliefert.

Aus genau diesem Grund gibt es auch keine Pkw-Garage. Es ist das erste Mal weltweit, dass Ikea dieses radikale Mobilitätskonzept umsetzt. Zu verdanken ist dies vor allem zwei querdenkenden Personen, die 2012 die Initiative ergriffen und die Spielregeln für eine innerstädtische Ansiedlung des schwedischen Unternehmens definiert haben – der damaligen Wiener Planungsstadträtin Maria Vassilakou und dem ehemaligen Wiener Planungssprecher Christoph Chorherr (beide Grüne).

Blick auf die Stadt

In den obersten zwei Stockwerken gibt es ein Hostel mit 345 Betten, das von der Accor-Tochter Jo&Joe betrieben wird und das sowohl von der Straße per Lift als auch direkt vom Ikea-Restaurant aus betreten werden kann. Durch begrünte Atrien, die von oben ins Haus hineingedrückt wurden, werden alle Zimmer und Dorms mit Tageslicht erschlossen. Das Dachgeschoß schließlich ist, wie dies im städtebaulichen Vertrag vorgeschrieben war, täglich von acht bis 24 Uhr öffentlich zugänglich. Mit zig Bäumen, weißen Container-Bars und betonierten Klippan-Sofas mit Blick auf die Stadt.

Seit wenigen Tagen ist das neue Haus (Gesamtinvestitionsvolumen 140 Millionen Euro) in Betrieb. Seit wenigen Tagen hat Wien endlich eine zeitgenössische, sehenswerte Architekturikone. Hej! (Wojciech Czaja, 28.8.2021)