Verschüttete Geschichte: Erst unlängst hat Didi Drobna unter dichten Laubschichten wieder den Eingang zu einer Bunkeranlage aufgespürt. Auf ihrem Smartphone zeigt sie die Bilder ... Und schon ist man mitten in ihrem Roman.

Foto: Barbara Wirl

Im Roman leben zwei Generationen eng zusammen, die doch eines ganz gewaltig trennt: die Vergangenheit und ihre Sicht darauf. Da sind Klara und Luis, Großmutter und Enkel, und der Nachbar Horst mit seiner zwölfjährigen, höchst aufgeweckten Tochter. Man lebt auf dem Land, ein altes Bauernhaus, das Luis in Eigenregie renoviert. Während er das Dach neu deckt – was für ein sprechendes Bild –, ist Klaras Leben am Verlöschen.

Doch da ist etwas, worüber Klara bisher nicht gesprochen hat und das sie am Ende ihres Lebens beschäftigt. Als die Nachbarstochter in Klaras Schlafzimmer stöbert und zwei Patronen entdeckt, die aus der einstigen Munitionsfabrik Hirtenberg stammen, ist Klara gezwungen, endlich zu erzählen: wie sie in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs Patronen für den "Endsieg" gefertigt hat ...

Damals hatte nur eines Priorität: Die Produktionskette darf nicht abreißen, die Quote muss erfüllt werden, damit der Krieg weitergehen kann. Klara und ihre Freundinnen haben sich freiwillig gemeldet – aber was heißt schon freiwillig in dieser Zeit? Da sind auch die Zwangsarbeiterinnen und die "Schutzhäftlinge": jüdische Frauen. Aber wie davon berichten und wie das Vergangene bewerten? "Die Vergangenheit tut niemandem gut", sagt Klara auf dem Höhepunkt des Romans, und der Enkel beharrt: "Erzähl es mir trotzdem."

Betonkammern

Streift man aber mit Didi Drobna durch den Mischwald, der heute das Gelände der ehemaligen Patronenfabrik dicht bewächst, spürt man die geradezu leidenschaftliche Neugier der 33-jährigen Autorin, ihre Ambition, Spuren von damals zu entdecken. Erst unlängst hat sie unter dichten Laubschichten wieder den Eingang zu einer Bunkeranlage aufgespürt.

Im Wald befinden sich die Überreste der Bunkeranlagen.
Foto: Barbara Wirl

Auf ihrem Smartphone erscheinen die Bilder einer heimlichen Begehung der immer noch vorhandenen massiven Betonkammern unter der Erde. Und schon ist man mitten im Roman. Aber wie kommt man überhaupt hierher, wie kommt eine Autorin, die 1988 in der Slowakei geboren wurde und seit 1991 in Österreich lebt, zu einem solchen Stoff? Warum Hirtenberg?

"Am Anfang stand Klara", sagt Didi Drobna. Und dabei geht es nicht darum, ob es sie wirklich gegeben hat oder ob sie nur eine fiktive Figur ist, wichtig ist: "eine Frau, die auf ihr langes Leben zurückblickt". Die Idee, ihr eine Vergangenheit in der Patronenfabrik zu geben, kam erst später. Drobna begann zu recherchieren und stieß auf Hirtenberg. "Dann fiel ich wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch." Der "Stoff", das Vergangene, ließ sie nicht mehr los.

Zwangsarbeiterinnen

Irgendwann tauchte sie auch ins (öffentlich nicht zugängliche) Archiv der Hirtenberger Fabrik ein, sprach mit Zeitzeuginnen, ließ sich von einem unbekannten Tagebuch berühren und durchkämmte den Wald auf der Suche nach Überresten jener Werksgebäude, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer jener Orte waren, wo der sinnlose Kampf, das Sterben von Zigtausenden verlängert wurde. Verschüttete Geschichte, sagt die Autorin, denn wo konnte man von denen lesen, die hier gearbeitet haben bzw. als Gefangene dazu gezwungen waren? Von ihnen wollte Didi Drobna mithilfe dieser Klara erzählen ...

Die, die wie Klara damals freiwillig hier arbeiteten, damit der Krieg weiterging, haben sich vermutlich nicht viel dabei gedacht, auch als sie plötzlich jüdischen Zwangsarbeiterinnen Anweisungen geben sollten. Man fragt sich, wie funktioniert ein solches System, und da heißt es einmal aus der Perspektive dieser jungen Frauen: "Wir alle wollten, dass unser Leben möglichst einfach blieb." So gesehen liegt es an diesem primitiven Bedürfnis jedes Einzelnen, dass sich Systeme wie das NS-Regime so lange halten können.

Die Autorin, die Klaras Leben als "eine Geschichte abseits der eindeutigen Kategorie" erzählen und genau diese Vielschichtigkeit thematisieren wollte, hat diese Erkenntnis aus den Zeugnissen dieser Zeit gewonnen: "Das Problem", sagt Drobna, "ist ja, dass sich viele nicht als Täter sahen, aber durch ihr Mitwirken das System unterstützt haben. Und gleichzeitig haben sie unter den Verhältnissen gelitten, ohne dass wir sie als Opfer betrachten würden. Klara spürt diese Gemengelage am Ende ihres Lebens und beginnt, wenn auch zögerlich, sich mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen."

Empörung der Jungen

Die Frage, meint Didi Drobna, die sich nach dem Ende des Krieges vielen aufgedrängt hat: Was habe ich mir selbst vorzuwerfen?, sei ja alles andere als leicht zu beantworten, und gerade das sei auch so schmerzhaft daran: "Wir lernen Klara als eine ganz normale, sympathische Frau kennen. Als sie in der Hirtenberger Fabrik anfängt, ist sie achtzehn, sie hat ihren Vater im Krieg verloren, kennt Armut, Hunger, Hoffnungslosigkeit. Übrigens", so die Autorin, "arbeiteten überwiegend Frauen in den Fabriken, die Männer waren ja an der Front. Dieser Teil des Krieges war weiblich. Dass Klara ihre Geschichte so lange verschweigt, deutet darauf hin, dass sie eine Schuld spürt, vielleicht vage, aber das Gefühl ist da."

Vielleicht wäre es ja dann die Aufgabe des Lesers, hier den Good Cop zu spielen, denn man kann doch von einer jungen Frau nicht erwarten, dass sie in der Munitionsfabrik als Einzige den Widerstand versucht und zur Saboteurin wird. Dennoch reagiert die Enkelgeneration verstört und empört, ohne überhaupt den Hintergrund zu kennen.

Vielleicht, meint Didi Drobna, steht hinter der Empörung der Jungen ja auch der Wunsch zu verstehen, wie es dazu kam, und vielleicht die Hoffnung, sie hätten anders gehandelt, wären sie in dieser Situation gewesen. "Manche konnten nach dem Krieg nicht darüber sprechen, und viele wollten es nicht. Für die nachkommenden Generationen ist es aber unglaublich wichtig, von diesen Erfahrungen zu lernen. Denn in diesen Geschichten ist das Menschsein in all seinen Facetten eingeschrieben."

Irgendwo ist immer Krieg

Traumatisch ist das Ende im April 1945, als die jüdischen Häftlinge auf Todesmarsch nach Mauthausen geschickt werden und Klara ihnen heimlich nachfolgt. Etwas, was damals in der Wirklichkeit sicher nicht geschehen ist, aber zweifellos ein schönes Zeichen von Mitgefühl und Solidarität ist. "Ich wollte zeigen", betont die Autorin, "dass Klara unter ihren Schichtkolleginnen, aber auch unter den Frauen aus dem KZ Nähe, Kollegialität und sogar Freundschaft findet, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen. Gleichzeitig stand ich vor der Aufgabe, die Geschichte zu ihrem angemessenen Ende zu bringen, und wollte dabei all die Aspekte unterbringen, die mir bei der Recherche wichtig und erzählenswert erschienen – wie die großen Bombardierungen der Städte, die langen Märsche der KZ-Häftlinge, das Chaos der letzten Kriegstage ..."

Von alldem kann man sich in Hirtenberg, wo Didi Drobna auf die Ruinen der Produktionsstätten deutet, keine Vorstellung machen, und auch das ist ein Konfliktthema, auf das die Autorin mit ihrem Roman hinweisen möchte: In Hirtenberg, wo Munition für zwei Weltkriege hergestellt wurde, ging nach 1945 die Produktion weiter, erst 2019 war Schluss. Im öffentlichen Bewusstsein war da offenbar nichts Fragwürdiges. Und ebenso war die Tatsache, dass KZ-Häftlinge aus Mauthausen hier Zwangsarbeit geleistet hatten, jahrzehntelang kein Thema.

Nahtlose Weiterproduktion

Dabei wurden in Hirtenberg 400 Frauen aus dem Osten gefangen gehalten, Jüdinnen, "Asoziale", "Reichsfeindinnen". Bei ihren Recherchen ist Drobna auf eine 40-jährige slowakische Ärztin gestoßen, die sie im Buch als Lujza verewigt hat. An sie würde heute genauso nichts erinnern.

Das sei eben, sagt die Autorin, weil nach dem Krieg alle Kraft in den Wiederaufbau floss. Man hat die konsequente Auseinandersetzung vermieden, vermutlich aus Angst, selbst in den Fokus der Geschichte zu geraten. Da ist Hirtenberg, wo nahtlos weiterproduziert wurde, kein überraschendes Beispiel. "Irgendwo ist immer Krieg", sagt Drobna, Hirtenberg hat es 160 Jahre lang genau deswegen gegeben, und auch wenn heute auf ganz andere Produktsegmente umgestellt wurde, könne man das ja nicht einfach so zurücklassen.

Dennoch: Nirgendwo auf dem Gelände entdecken wir eine Gedenktafel, ein Hinweisschild, das aufklären und an die Vergangenheit erinnern würde. "Das hat mich bei meinen Besuchen und Recherchen vor Ort irritiert", sagt Didi Drobna. "Vielmehr muss uns klar sein: Wir dürfen dieses Kapitel nicht als abgeschlossen betrachten." (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 28.8.2021)