An der Neuen Donau existiert eine eigenwillige Interpretation von "Parken".

Foto: Christian Fischer

Thomas im liebevoll ausgestalteten "Lieferwagen". Polizei und Inselverwaltung drücken derweil generös die Augen zu. Nächstes Jahre kommt sowieso das Parkpickerl.

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Eine kleine Szene hat es sich hier gemütlich eingerichtet.

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Bianca auf ihrem Campervan.

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Dieser Platz ist auch bestens für Wassersportler geeignet.

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Solange wir keinen Tisch draußen aufstellen, ist es Parken." Pierre zwinkert und dreht sich um: Die Mokkakanne hinter ihm blubbert – und Kaffee, sagt Pierre, sei in der Früh wichtig. Lebenswichtig. Auch beim "Parken". Denn davon, dass er und seine Freundin Yvette hier kampieren, will der junge Mann vor dem unauffälligen fensterlosen Lieferwagen nichts wissen: "Wäre das denn legal?", fragt er – und versucht gar nicht so zu tun, als ob er die Antwort nicht ohnehin wisse.

Währenddessen blinzelt Yvette verschlafen in die Sonne, die ihr von der spiegelglatten Neuen Donau entgegenblitzt. Das Wasser liegt ein paar Böschungsmeter entfernt knapp unterhalb der weit geöffneten Ladetüren des weißen Vans mit Pariser Kennzeichen. Yvette liegt noch auf der ins Heck eingepassten, erhöhten Schlafplattform. Sie dreht den Kopf flussaufwärts, Richtung Kahlenberg: "Schönbrunn, c’est loin?" (Ist Schönbrunn weit weg?) fragt sie – und schaut ins Wageninnere: "Du lait avec ton café?" (Willst du Milch zum Kaffee?) Keine Frage: So geht "Parken".

Berliner Lieferwagen

Wenige Meter weiter steht ein schwarzer Lieferwagen. Wie jener der Franzosen fensterlos unauffällig: Mit solchen Autos übersiedelt man. Zusteller verwenden sie. Aber wieso hat ein Lieferwagen in Wien ein Berliner Kennzeichen? Das Paar (beide Mitte 50), das gerade zwei E-Bikes bei der Seitentür heraushebt, wirkt bieder und mittelständisch: "Wir sind auf dem Weg zu Ikea", sagt der Mann – und grinst genau so, wie es der junge Franzose zuvor tat. "Schatz, sperrst du ab?" Knapp bevor seine Frau die Tür zuwirft, lässt sich ein Blick ins Wageninnere erhaschen: eine Küchenzeile, ein Tisch mit Geschirr. Auf dem Weg zu Ikea? Ja eh – und die Erde ist eine Scheibe.

Wer öfter am Parkplatz "Neue Donau Mitte" vorbeikommt, kennt derlei Szenen und Bilder. Und wundert sich schon lange nicht mehr. Schließlich ist der sogenannte "Kaisermühlenparkplatz" am Entlastungsgerinne seit jeher ein Geheimtipp für sommerliches Dauerparken: Im Sommer steht hier Lieferwagen neben Lieferwagen. Sind die Türen offen – was sie oft sind –, offenbart sich ein Sammelsurium an Strand- und Wassersportgerätschaften. Surfbretter, Gartenmöbel, SUP-Boards, Fahrräder, E-Roller, Kajaks. Meist auch eine Matratze: Wozu heimfahren, wenn die Abende länger und die Sundowner mehr werden?

Surfer ohne See

Im Corona-Sommer des Vorjahrs kam eine neue Klientel dazu: Surfer – weil Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil den Neusiedler See für Wienerinnen und Wiener gesperrt hatte. Einige kommen auch jetzt noch: An Tagen mit guter Windprognose stehen hier mitunter bis zu zehn der typischen fürs "Surf-Beach-Bumming" optimierten Campingbusse. Windanzeiger wehen, Hängematten baumeln, Partystimmung – und Segel, Riggs und Boards vor den Bussen.

Surfer sind mobil und gut vernetzt: Zu den "Autochthonen" gesellten sich bald Besucher am Weg von irgendwo nach anderswo. Und dann machte es "Bumm": Als die Reisebeschränkungen fielen, als Grenzen sich öffneten, entdeckte die internationale und boomende Van-Life-Szene den Kaisermühlenparkplatz. Zuerst kamen meist kleine, liebevoll selbst ausgebaute Busse. Dann größere Vans – und zuletzt "echte" Wohnmobile: Zu Ferragosto rückte eine kleine Armada italienischer Luxuscampingmobile an – und blieb mehrere Tage.

Wildes kampieren

Nachvollziehbar: Der Platz hier ist schließlich perfekt. Nicht nur weil er unmittelbar am Wasser liegt. Er ist von der Autobahn aus leicht erreichbar. Die U-Bahn hält wenige hundert Meter entfernt. Man ist auch mit dem Rad rasch in der City. Es gibt Toiletten, Trinkwasser und sogar eine (Kaltwasser-)Dusche. Fußläufig (in Kaisermühlen) gibt es Supermärkte, Eissalons und Lokale. Aber vor allem: Hier zu stehen kostet nichts.

Die Sache hat nur einen einzigen, klitzekleinen Schönheitsfehler: "Wildes" Kampieren ist in Wien – wie fast überall in Österreich – verboten. Die Kampierverordnung regelt genau, wer wo wie öffentlich übernachten darf. De jure fällt in Wien schon das "Ausrollen eines Schlafsacks" unter "Camping". Schlafen im Campingbus ist eindeutig – und in Wien an exakt zwei Orten erlaubt: auf den städtischen Campingplätzen in Hütteldorf (Camping Wien West) und der Donaustadt (Camping Neue Donau). Insgesamt gibt es in Wien rund 370 Stellplätze für Wohnwägen oder Campingbusse, Betreiber beider Plätze ist das Verkehrsbüro.

Zwei offizielle Plätze

Dass der zweite, nur im Sommer geöffnete Platz "Neue Donau" heißt, ist kein Zufall. Er liegt nur ein paar hundert Meter vom Kaisermühlenparkplatz entfernt. Für rund 30 Euro pro Nacht (die Preise variieren je nach Personenzahl) findet man hier "alles, was man beim Campen braucht: Sicherheit, Hygiene und Stromanschluss", erklärt Verkehrsbürosprecherin Andrea Hansal. Und die U-Bahn ist nicht weiter weg als vom Kaisermühlenparkplatz.

Darüber, was beim Campen wirklich zählt, gehen die Meinungen aber auseinander: Der 32-jährige Thomas hat soeben seinen liebevoll in fünfjähriger Arbeit vom Wrack zum Kleinod restaurierten VW-T3 aus dem Jahr 1986 so platziert, dass er und seine Freundin Leonie beim Aufwachen durchs Heckfenster die Sonne im Wasser sehen: "Kann das der Campingplatz auch – oder heißt er nur ‚Neue Donau‘?", fragt der Lkw-Fahrer aus dem Raum Bochum. Strom? Leonie, im wirklichen Leben Kinderkrankenschwester, zeigt zum Dach: Das Solarpaneel dort liefert genug Strom für den Zwölf-Volt-Kühlschrank und zwei Smartphones – und über einen "Wandler" geht sich auch eine 220-Volt-Ladung des Laptops aus. "Wir sind seit drei Wochen unterwegs und waren auf keinem einzigen Campingplatz: Das ist Freiheit." Ob das "Parken" ("Wir haben für Wien drei Tage eingeplant.") legal ist? Thomas zuckt mit den Schultern: "Wer fragt, riskiert ein Nein."

Verratenes Paradies

Freilich: Ganz so ahnungslos-naiv sind die Wildcamper nicht. Es ist auch alles andere als Zufall, dass die Zahl der Campingbusse mit internationalen Kennzeichen in Kaisermühlen heuer nach oben schoss. Denn am 16. Juli 2020 wurde der Ort "geleakt": Auf der Wildcamper-App Park4Night machte ein "A. Kirsch ner" öffentlich, was zuvor nur wenige wussten: "Wunderschöner kostenfreier Platz" steht da. Fotos und immer mehr Spitzen bewertungen anbei – inklusive Hinweis, dass der Ort sicher wirke, weil Polizei und Magis trat regelmäßig patrouillieren. Park4Night ist der Lonely Planet der Van-Life-Szene. Was hier aufpoppt, ist umgehend das Gegenteil eines Geheimtipps.

Deshalb sind viele "Locals" alles andere als glücklich über die Prominenz, die der Campingplatz, der keiner ist, nun hat. Istvan, ein selbstständiger slowakischer Kleintransportunternehmer, klagt, nach der Arbeit "wegen der Touristen" oft keinen Platz mehr zu finden. Er selbst sei ja kein Tourist: "Ich schlafe hier, weil der Weg in die Slowakei zu weit wäre."

Getarntes kampieren

Auch die 27-jährige Bianca weicht mittlerweile hin und wieder anderswohin aus – nicht nur, wenn der Platz zu voll ist: Die Jusstudentin aus der Steiermark lebt seit fast zwei Jahren im Frühling und Sommer in ihrem selbst adaptierten mintfarbenen "Stealth-Camper" (Szenesprech für nicht als Camper erkennbare Lieferwagen). Davor zelebrierte sie das "Van-Life" in Spanien. Dieser Sommer in Wien, sagt Bianca, sei aber eigen. "Die Wetterkapriolen waren heftig. Hagel kenne ich, da fahre ich unter eine Brücke. Aber tornadoartige Stürme, die den Bus fast umwerfen, sind neu." Da flüchte sie von ihrem Lieblingsstellplatz unter einem Baum: "Am sichersten ist es zwischen Hochhäusern."

Den Garaus dürfte dem Nichtcampen in der Donaustadt allerdings weniger der Klimawandel als die banale Wiener Stadtpolitik machen. Parken ist auf dem Kaisermühlenparkplatz zeitlich unbeschränkt kostenlos möglich, weil der 22. Bezirk kein Parkpickerlbezirk ist. Genauer: war. Ab März 2022 ist es mit dem Dauerfreiparken ohnehin vorbei. Wohl auch deshalb sieht die Stadt jetzt, zu Saisonschluss, keinen Handlungsbedarf. Abgesehen davon, erklärt Inselverwalter Thomas Kozuh-Schneeberger, sei "die Polizei für die Einhaltung der Kampierverordung zuständig". Doch die Polizeistreifen haben vernünftigerweise andere Prioritäten, als Camper zu vertreiben, deren einziges Delikt ist, Parkplätze zu besetzen.

Zukunftssorgen

Während die Surfer sich schon jetzt Sorgen machen, wie es wohl im kommenden Jahr sein wird ("Wir hoffen, dass es Ausnahmen geben wird: Sonst muss ja jeder, der badet oder grillt, permanent Parkscheine nachlegen!"), sieht einer, der hier seit Ewigkeiten sein Sommerdomizil hat, auch dem nächsten Sommer sehr entspannt entgegen: Den freundlichen Hünen (er)kennt inselauf- und gerinneabwärts jeder als "Asterix", wenn er mit E-Roller oder SUP-Board, aber immer mit seinem Hasen "Idefix" seine Runden zieht. Das Parkpickerl werde zumindest ihm den Sommer am Wasser nicht vermiesen: "Ich bin ja Spediteur. Auch für die Post. Da darf ich mit meiner Sondererlaubnis überall stehen. Und wenn ich auf einen Auftrag wart’, tu ich das im Sommer halt hier." Manchmal auch über Nacht. Das nennt man dann "Parken". (Tom Rottenberg, 29.8.2021)