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Die Aga-Kröte (Rhinella marina) hat sich in Australien zu einer wahren Kannibalin gemausert.
Foto: David Gray / Reuters

Australien ist bekannt für seine Vielfalt an giftigen Tieren – und für eingeschleppte Arten, die den lokalen Ökosystemen schaden können, etwa Kaninchen, Füchse, verwilderte Hauskatzen und Kamele. Die Aga-Kröte vereint beide Aspekte: Die Amphibien mit der giftigen Haut zählen zu den Neozoen, seit die ursprüngliche Südamerikanerin an verschiedenen Ecken der Welt zur Schädlingsbekämpfung angesiedelt wurde. Auf Karibikinseln sollte sie auf Zuckerrohrplantagen gefährdende Insekten und auch Ratten dezimieren: Immerhin steht auf ihrem Speiseplan ungefähr alles, was in ihr Maul passt, darunter auch kleine Nagetiere und Vögel.

Ab der ersten Ansiedlung in Australien im Jahre 1935 konnte sich die Riesenkröte immer rasanter ausbreiten – mehr als 200 Millionen Exemplare sollen mittlerweile im Land leben und die Grenzen ihres Verbreitungsgebiets jährlich um 40 Kilometer verschieben. Ein Forschungsteam konnte nun eine weitere beachtliche Entwicklung analysieren: Im Laufe von 86 Jahren hat sich die Aga-Kröte hier zu einer klaren Kannibalin gewandelt, während die Vertreterinnen der Art in Südamerika diese Praxis weitaus seltener ausüben.

Ein Wimpernschlag in der Evolution

Schon früher konnten Wissenschafter beobachten, wie sich Kannibalismus generell bei Arten entwickelt hat, sagt der aus Deutschland stammende Ökologe Volker Rudolf von der Rice University im US-amerikanischen Texas. Das Spannende an der neuen Arbeit, die im Fachjournal "PNAS" erschien und an der er nicht beteiligt war, sei, dass die Forschenden gewissermaßen "die Entwicklung direkt vor ihren Augen" haben und miterleben – weil das Verhalten in weniger als hundert Jahren in dieser Ausprägung entstanden ist. Aus evolutionärer Perspektive ist das nur ein kurzer Moment.

Die Individuen in Australien sind laut der Erstautorin Jayna DeVore so zahlreich geworden (hunderte Millionen), dass der Wettbewerb um Ressourcen merklich an ihnen nagt. Dadurch seien sie einem größeren evolutionären Druck ausgesetzt als alle anderen Arten in Australien, sagt die Biologin von der Universität Sydney und der gemeinnützigen Tetiaroa Society in Französisch-Polynesien: "Diese Kröten sind an einem Punkt angelangt, an dem sie selbst ihr schlimmster Feind sind."

Angefangen hat alles mit nur etwa einhundert Aga-Kröten, die Landwirte im Kampf gegen den Zuckerrohrparasiten Dermolepida albohirtum 1935 nach Australien brachten. Ihr Ziel erreichten sie damit zwar nicht, dafür konnten sich die Kröten im Norden und Osten des Landes immens vermehren, weil sie keine natürlichen Fressfeinde hatten.

Kannibalistische Kaulquappen

Was den Kannibalismus angeht, so sind es meistens nicht die erwachsenen, bis zu 25 Zentimeter lang werdenden Kröten, die sich gegenseitig verschlingen. Stattdessen geht es in einem jüngeren Entwicklungsstadium zur Sache: Einige ihrer Kaulquappen können ausreichen, um mehr als 99 Prozent der Individuen aus einem Gelege zu töten. Dabei handelt es sich immerhin um zehntausende Eier.

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Südamerikanische und australische Kaulquappen der Aga-Kröte zeigten erstaunliche Unterschiede.
Foto: Joe Raedle / APA / AFP / Getty Images

Um herauszufinden, ob es örtliche Unterschiede zwischen diesem kannibalistischen Verhalten gibt, sammelten DeVore und ihre Forschungsgruppe Aga-Kröten in Australien und Französisch-Guayana in Südamerika und züchteten sie, um an Kaulquappen zu gelangen. Die Gruppe setzte dann eine einzelne Kaulquappe zehn frisch geschlüpften Kaulquappen aus – jeweils innerhalb der australischen oder der südamerikanischen Gruppe. Dieses Experiment führte sie hunderte Male durch und fand heraus, dass die australischen Kaulquappen mit 2,6-mal höherer Wahrscheinlichkeit andere Kaulquappen fraßen als ihre südamerikanischen Pendants.

Duftende Gifthaut

Außerdem zeigten die australischen Tiere eine viel stärkere Präferenz, wenn man sie vor die Wahl stellt, zu einer leeren Falle oder einer mit kürzlich geschlüpften Artgenossen zu schwimmen. In diesem Experiment wird auch deutlich, dass australische Kaulquappen den Geruch der giftigen Haut äußerst anziehend finden: "Es kommt zu einer riesigen Lawine abertausender winziger Kaulquappen, die sich auf diese Chemikalie stürzen", sagt der Evolutionsbiologe und Ko-Autor Rick Shine von der Uni Sydney. Im Gegensatz zu den südamerikanischen Tieren schwammen diese Kaulquappen um das fast 30-Fache öfter zu den duftenden Artgenossen als in die leere Falle.

Beeindruckenderweise wurden auch schon Gegenstrategien entwickelt, schreibt die Forschungsgruppe: Sie verkürzen offenbar ihre Entwicklungsperiode, um möglichst schnell zu den fortgeschrittenen Kaulquappen zu gehören und nicht mehr wie frisch geschlüpfte Tiere zu wirken. Denn prinzipiell fressen ältere Kaulquappen selten ebenfalls ältere Artgenossen. Und wenn junge Kaulquappen in ein Becken mit älteren Kaulquappen gesperrt wurden, stellte sich heraus, dass die australischen Tiere durchschnittlich eine kürzere Entwicklungszeit hatten als die südamerikanischen. Dadurch wird die Zeitspanne kleiner, in der sie besonders anfällig dafür sind, das Opfer von Kannibalismus zu werden, sagt DeVore.

Genetische Grundlagen und Artenbildung

Diese Verhaltensänderung hat sich sehr schnell über nur wenige Krötengenerationen hinweg entwickelt. Der Evolutionsbiologe Roshan Vijendravarma vom Curie-Institut in Paris, der Kannibalismus bei Fruchtfliegen untersucht, vermutet, dass dem genetische Veränderungen zugrunde liegen. Die DNA dürfte bei den einheimischen und den invasiven Kröten also bereits relevante Unterschiede zeigen. Dieser Theorie gehen Rick Shine und sein Team nun nach. "Die Aga-Kröten, die heute durch Australien hüpfen, sind außergewöhnlich anders geartete Tiere im Vergleich zu jenen, die erstmals dem ursprünglichen Verbreitungsgebiet entnommen wurden", sagt Shine.

Derartige Entwicklungen können außerdem die Basis für die Entstehung neuer Arten sein: Wenn verschiedene Populationen lange genug räumlich voneinander getrennt und unterschiedlichem evolutionären Druck ausgesetzt sind, kann es geschehen, dass sie sich so weit voneinander fortentwickeln, dass die Fortpflanzung von Individuen aus den verschiedenen Gruppen nicht mehr möglich ist. (sic, 29.8.2021)