In der ÖVP ist immer noch alles ganz auf den Parteichef und Kanzler Sebastian Kurz zugeschnitten. Für Kritik oder Zwischentöne ist da kein Platz.

Foto: Christian Fischer

Aufseiten der Grünen hatte niemand Illusionen gehabt, dass dies eine fabelhafte, fröhliche Koalition werden würde, in der man sich lustvoll einbringen und alles, oder zumindest das Wesentliche, durchbringen könnte. Aber es gab doch eine gewisse Erwartungshaltung, eine positive Grundstimmung.

Jetzt, eineinhalb Jahre nach der Angelobung, ist die Ernüchterung groß. Der Frust reicht von ganz oben bis hinunter in die kleinste Ortsgruppe. Die Auseinandersetzung um Afghanistan sei noch schlimmer als jene um Moria, empfinden viele – weil sie so endgültig sei.

Als es darum ging, Kinder aus den griechischen Elendslagern aufzunehmen, gab es auf grüner Seite noch die Hoffnung, Kurz und die ÖVP ein bisschen bewegen zu können und gemeinsam etwas zustande zu bringen, vielleicht auch nur hinter den Kulissen.

Der Streit um Evakuierungen aus Afghanistan zeigt aber, dass es mit der ÖVP keine Verbesserung geben wird, dass sich Kurz nicht ändern wird, dass er im Themenkomplex Migration und Asyl zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist – ganz so, wie er das zu Beginn der Koalition auch angekündigt hatte.

Die Chemie der Koalition

Der aktuelle Streit ist für die Grünen demoralisierender als all die Scharmützel davor, weil jetzt definitiv klar ist: Hier können die Grünen nichts bewegen. Und das verändert auch die Chemie dieser Koalition. Alle Versuche, mit Kurz und Innenminister Karl Nehammer in eine konstruktive Auseinandersetzung zu kommen, sind gescheitert.

Dass Kurz und Nehammer den Grünen ganz offensichtlich schaden wollen, dass sie Statements in der Absicht abgeben, den Koalitionspartner vor den Kopf zu stoßen, das sei neu, "das kennen wir so bisher nicht", beschreibt einer aus dem inneren Kreis die aktuelle Situation.

Parteichef Werner Kogler rückt erst aus, wenn er unbedingt muss – und dann sind seine Worte gut vorbereitet. Er weiß aus Erfahrung, dass jeder offen ausgetragene Konflikt auf der Seite der ÖVP zu einer Verhärtung führt und Kurz keinen Millimeter nachgeben wird.

Was Kogler dann über die ÖVP zu sagen hat, sagt er seinen eigenen Leuten: dass die ÖVP Menschlichkeit vermissen lasse. Die Basis braucht das, da hat sich schon enormer Unmut, Zorn und auch Unverständnis angestaut. Und vielleicht braucht es auch Kogler selbst, im Sinne der Psychohygiene. Ihm wird allerdings nachgesagt, in dieser Koalition keinen Schmerz mehr zu spüren.

Migrationswahlkampf

Sosehr sich der Frust ausbreitet, klar ist dem großen Teil der Grünen auch, dass sie diese Koalition jetzt nicht sprengen wollen: Niemand will Kurz einen Migrationswahlkampf schenken, da können alle anderen nur verlieren.

Die Erwartungshaltung war jedenfalls eine andere, auch in der ÖVP: Allein die Tatsache, dass Kurz die Grünen als Koalitionspartner wählte, ließ erwarten, dass er sich auch einem Imagewandel unterziehen wolle. Eine auch international beachtete Koalition mit den Grünen böte ihm und der vermeintlich neuen Volkspartei die Möglichkeit, sich neu zu positionieren, den lästigen braunen Staub aus der Koalition mit der FPÖ abzuputzen und ein Projekt zu präsentieren, das innovativ und spannend wäre: Kurz als respektierter, bekennend konservativer, aber junger und europäischer Staatsmann, der neue Wege geht, sich mit den Grünen arrangiert und dem drohenden Klimawandel entschlossen entgegentritt und gewitzte Ideen und Lösungsansätze entwickelt. Das könnte ein spannendes Projekt sein, ein Vorzeigemodell auch für andere Staaten.

Das ist so nicht eingetreten. Kurz setzt nach wie vor auf das Ausländerthema, das ganz brachial bedient und strapaziert wird. Zwischentöne gibt es nicht, Übereinstimmung mit dem Koalitionspartner wird fast manisch vermieden. Hier wird gezielt ein bestimmtes Publikum bedient – ganz abseits der türkis-grünen Schnittmenge.

Steinzeit-Sager

Umweltpolitik scheint Kurz gar nicht zu interessieren, mit seinem Steinzeit-Sager hat der Kanzler ganz andere Signale ausgesandt: Er hat zumindest versucht, den grünen Partner der Lächerlichkeit preiszugeben und dessen Bestrebungen, Maßnahmen gegen den Klimaschutz zu propagieren, zu unterlaufen. Da verlieren beide.

Es wäre nicht nur eine Bringschuld der Grünen gewesen, in der Umweltpolitik Meilensteine zu setzen, das galt als ein zentrales Vorhaben dieser Regierung. Stattdessen wird kleinlich gestritten und gemobbt. Das überhastet vorgestellte 1-2-3-Ticket erweist sich noch als PR-Gag, dem die Substanz fehlt. Die dilettantische Präsentation steht für das schlechte Gewissen, das Grüne angesichts der schlampigen Umsetzung heimsuchen muss.

Ein symbolträchtiges Foto: Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) besichtigen Grenzzäune. Es gab Zeiten, da sahen es Außenminister der ÖVP als ihre Aufgabe, Grenzzäune zu beseitigen.
Foto: EPA / Valda Kalnina

Anstatt sich als verantwortungsvoller europäischer Staatsmann zu präsentieren, fährt Kurz bewusst einen EU-kritischen Kurs, weil dieser immer noch Wählerstimmen bringt, vor allem die am rechten Rand.

Die offen zur Schau getragene Europa-Skepsis dieser Regierung überrascht doch etwas. Man hätte sich eher vorstellen können, dass Kurz als langfristige Perspektive den Job als Kommissionspräsident vor Augen hat. Das scheint mittlerweile ausgeschlossen. Kurz setzt auf Nationalismus, nicht auf Internationalität, und Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg hüpfen das in allen Verrenkungen mit, der eine mehr, der andere vielleicht weniger überzeugt.

Angriff auf die Kommission

Es gibt offenbar keinerlei europapolitisches Interesse außer der Dekonstruktion. Die Perspektive scheint ausschließlich auf nationalstaatliche Interessen ausgerichtet zu sein. Mit gezielten Angriffen auf die EU-Kommission und ihre Repräsentanten verspielt Österreich dort Sympathie und die Chance, gestaltend einzugreifen.

Mit diesem Kurs trägt Kurz maßgeblich dazu bei, eine EU-skeptische Stimmung im Land aufrechtzuerhalten und zu befeuern. Den europäischen Gedanken hat er offenbar begraben, das ist auch ernüchternd für die Grünen, die sich als Regierung ganz anders zu positionieren erhofft hatten.

Die Corona-Krise bewältigt die Regierung mit Anstand, mit Ruhm bekleckert hat sich der Bundeskanzler dabei nicht. Ein paar Mal hat es gehörig geholpert, als etwa Kurz einen Schuldigen für den österreichischen Impfstoffengpass gesucht hatte und diesen in einem Beamten im Gesundheitsministerium fand.

Am Rande der Lächerlichkeit

Das Liebäugeln von Kurz mit dem russischen Impfstoff Sputnik V geriet zum Schaulaufen am Rande der Lächerlichkeit. Zu dem Zeitpunkt, als Kurz ankündigte (und der EU androhte), bald Sputnik in Österreich zu verimpfen, war eigentlich klar, dass dies niemals der Fall sein würde. Auch die Anstrengungen der österreichischen Regierung, einen eigenen Impfstoff zu entwickeln und zu produzieren, sind nach der großmundigen Ankündigung im Sand verlaufen.

Die Pandemie in ihrer Einzigartigkeit war und ist schwer zu handhaben, Prognosen sind schwer zu treffen. Kurz hat es dennoch getan. Ob aus Kalkül, aus Unwissenheit oder Leichtsinn: Seine Ansage, wir werden bald wieder zur Normalität zurückkehren, war schlichtweg falsch.

Exakt vor einem Jahr, am 28. August 2020, hat Bundeskanzler Kurz seine groß angekündigte "Rede zur Lage der Nation" gehalten: Es gibt "Licht am Ende des Tunnels." Davon sind wir, gerade an der Schwelle zur vierten Welle, nach wie vor weit entfernt. Kein Licht. Es wird gerade wieder finster.

Diskrepanz beim Kirchgang

An Kurz leiden aber nicht nur die Grünen, sondern auch viele Schwarze, die sich mit der türkisen Umfärbung immer schon schwergetan haben. Das bedingungslose Anbiedern von Kurz und Nehammer an die Wählerschaft der FPÖ vergrämt viele im bürgerlichen Lager, die es gerne etwas weniger aggressiv angegangen wären.

Die Härte, mit der Kurz gegen Flüchtlinge auftritt, wollen viele ÖVPler aus der bürgerlichen Mitte nicht mittragen. Die Diskrepanz zwischen dem sonntäglichen Kirchgang, dem Bekenntnis zum christlich-sozialen Grundgedanken, zu Werten wie Solidarität und Nächstenliebe und den Sonntagsreden, in denen Hilfe auf Lesbos oder in Afghanistan ausgeschlossen oder banalisiert wird, ist frappant.

Das soll auch einigen schwarzen Landesfürsten ganz sauer aufstoßen, die aber aus Parteiräson – noch – den Mund halten. Wenige Tage vor dem Parteitag, auf dem Kurz erneut auf den Schild gehoben wird, wollte niemand die angeordnet gute Stimmung verderben. Da hält die Disziplin in der Partei. Es ist eine Mischung aus Angst, Resignation und Pragmatismus, aus der sich Kritiker selbst den Mund verbieten.

Überheblichkeit und Ignoranz

Die mächtigen, schwarzen Landeshauptleute haben auch aus anderen Gründen ihr Problem mit Kurz: Die Überheblichkeit, mit der sich die türkise Partei, auch Familie genannt, in Wien Jobs und Macht aufteilt, kam in den Bundesländern ganz schlecht an. Die bekannt gewordenen Chats, die ein Sittenbild der Freunderlwirtschaft und des Postenschachers und darüber hinaus eine Verlotterung der Sprache und der Umgangsformen offenbarten, wurden in schwarzen Kreisen intensiv diskutiert.

Dazu kam die Ignoranz, mit der sich die in Wien über die Interessen der Länder hinwegsetzten. Das führte zu einer ernsthaften Verstimmung in der Partei und kumulierte in einer Kopfwäsche für Kurz, als er dem Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner nicht schlüssig erklären konnte, warum ÖVP und Grüne im Parlament für einen vorläufigen Baustopp der S18 im Ländle stimmten – angeblich ohne Wissen des Parteichefs: was kaum denkbar ist.

Was hilft am besten gegen unangenehme Themen: andere, neue Themen. Die Diskussion um den Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan kommt da gerade recht. Und sie wird bleiben. Kurz präsentiert sich als Bollwerk gegen eine Bedrohung, die aus österreichischer Sicht so bedrohlich nicht sein müsste.

Anstatt eine konstruktive und offensive Flüchtlingspolitik zu betreiben und gestaltend hinzugreifen, werden destruktiv Klischees bedient und Feindbilder befeuert. Das hilft über die Unebenheiten des politischen Alltags, ersetzt aber nicht die Vision, die es bräuchte, um ein Land nicht nur zu verwalten, sondern zu entwickeln und gestalten. Aber auch das wird im Jubel des Parteitags über ein zumindest respektables Ergebnis für den Parteichef untergehen. (Michael Völker, 28.8.2021)